Glaubensbekenntnis als Unikat – wie das Konzil von Nizäa nachwirkt
Der Dogmatiker an der Päpstlichen Universität Gregoriana, Philipp Renczes, und der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald organisierten eine zweiteilige internationale Konferenz zum ersten ökumenischen Konzil in Nizäa 325. Im Gespräch am Ende äußern sie sich zu dessen anhaltender Bedeutung und warum aktuelle Streitthemen zwischen den Kirchen nicht erstrangig werden sollten.
Frage: Professor Seewald, Sie haben einmal gesagt, Dogmen könnten gegenstandslos werden, auch wenn sie deswegen nicht unbedingt falsch werden. Dieses Jahr wird vielerorts 1.700 Jahre Konzil von Nizäa gefeiert. Aber ist das, was damals formuliert wurde, inzwischen gegenstandslos oder praktisch irrelevant für das Leben von Christen und Kirchen heute?
Seewald: Das Glaubensbekenntnis von Nizäa wird, mit einigen späteren Ergänzungen, bis heute gesprochen. Als solches ist es nicht irrelevant und hoffentlich auch nicht gegenstandslos. Die Frage ist, ob es verstanden wird. Aber vor 1.700 Jahren waren die Formeln von Nizäa vielleicht auch nicht verständlicher als heute, sondern auslegungsbedürftig. Darin liegt die Aufgabe der Theologie.
Frage: Man hat ein bisschen den Eindruck, 1.700 Jahre Konzil von Nizäa seien eine Gelegenheit für Kirchenleitungen und Theologen, noch einmal richtig an die Öffentlichkeit zu gehen. Sind die Konferenzen und Feiern zu Nizäa wirklich ein Impuls, um die christlichen Kirchen stärker zusammenzubringen? Oder nur eine Gelegenheit, hier und da noch mal ein bisschen für Publicity zu sorgen?
Seewald: Uns geht es darum, die Aufmerksamkeit, die das Konzilsjubiläum auf sich zieht, zum Anlass für theologisches Nachdenken zu nehmen. Daten und Jubiläen haben am Ende immer etwas Beliebiges. 2026 wird die Ökumene nicht besser dastehen als 2024, nur weil es 2025 ein Konzilsjubiläum gab. Aber das ökumenische Nachdenken über Nizäa könnte eine Gelegenheit sein, in der sich das Gemeinsame in Bezug auf das Bekenntnis darstellt und es weniger um das Abgrenzen der eigenen Identität geht.
Frage: Ist das schon zu beobachten? Das Jahr 2025 dauert ja schon etwas länger.
Renczes: Theologisches Reflektieren, zumal in einem Kongress mit theologischen Fachvertretern anderer Konfessionen, ist stets von einer ökumenischen Dimension geprägt. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher theologischer Traditionen und Argumentationsweisen hat das Potenzial, zu einem wachsenden Verständnis füreinander zu führen. Die Reflexion über das Konzil von Nizäa ist dabei von besonderer Relevanz, da es sich um das erste Konzil handelt, das ein Glaubensbekenntnis beinhaltet, welches bis heute von sämtlichen christlichen Konfessionen akzeptiert wird – und in dieser Qualität ist es auch bis heute ein Unikat geblieben.
Nizäa muss demnach als Idealfall für die Ökumene betrachtet werden. Zum 1.600-jährigen Konzilsjubiläum vor 100 Jahren wäre jedoch ein solches gemeinsames Reflektieren in dieser Form noch undenkbar gewesen. Schließlich ist anzumerken, dass die Interpretation des Konzils von Nizäa heute auch im jüdisch-christlichen Dialog eine neue Bedeutung erlangt hat.
Frage: Sie haben den Papstbesuch in der Türkei angesprochen. Was erwarten Sie konkret als Theologen von dem hochrangigen Gedenken an Nizäa?
Renczes: Es ist, glaube ich, davon abzuraten, im vornhinein diesen Termin mit konkreten Erwartungen zu überfrachten. Persönliche Begegnungen sowie feierliche Akte mit liturgischem Charakter werden in jedem Fall eine Wirkung entfalten. Darüber hinaus würde es sich als herausfordernd gestalten, eine Agenda für diesen Termin zu erarbeiten, zumal in diesem Fall die Ebenen der ökumenischen Beziehungen auch auf die der interreligiösen Begegnung treffen.
Frage: Damals in Nizäa waren die Streitthemen das Verhältnis Jesu Christi zu Gottvater, das Wesen Gottes, der Dreifaltigkeit. Heute streiten Kirchenvertreter um Frauenordination, Gender, Sexuallehre. Haben diese Differenzen die klassischen, alten Lehrstreitigkeiten ersetzt? Wären es jetzt wichtiger, darüber zu sprechen anstatt über Abendmahl- und Ämtertheologie?
Seewald: Die Beschäftigung mit Nizäa und seinen eher spekulativ-abstrakten Themen könnte die Chance bieten, dass man von den unmittelbaren politischen Reizthemen etwas wegkommt und sich über Themen verständigt, die auch wichtig sind, selbst wenn ihr öffentliches Erregungspotenzial eher begrenzt bleibt.
Die einstige Hagia-Sophia-Kirche in Iznik, in der das Konzil von Nizäa stattfand, wird heute als Moschee genutzt.
Frage: Aber das Selbstverständnis der menschlichen Geschlechter und welche Folgen das für die Amtstheologie hat, sind Fragen theologischer Anthropologie.
Renczes: Es ist Aufgabe der Theologie, und natürlich unmittelbare Aufgabe der Kirche, das Verständnis des Glaubens zu reflektieren und dies in jeder Generation neu zu thematisieren. Die Annahme, dass es keine akuten Probleme mit dem Glaubensbekenntnis von Nizäa gibt, ist wohl zutreffend. Wird jedoch die Bedeutung dieses Konzils außer Acht gelassen, so führt dies zu einer Fragestellung hinsichtlich der Begründung spezifischer moraltheologischer Entscheidungen der Kirche sowie der zugrundeliegenden Überzeugungen.
Frage: ... zum Beispiel?
Renczes: Wieso zum Beispiel ein Konzil eine Entscheidung fällen kann, die jetzt für uns heute noch maßgeblich sein soll.
Seewald: Eine Kirche, die nur um aktuelle Themen kreist, macht sich selbst ärmer als ihre Tradition, die ganz viele Themen bietet. Fragen, etwa trinitätstheologischer oder interreligiöser Art, wie sie sich um die Deutung des Konzils von Nizäa stellen, geben der Kirche die Möglichkeit, die Breite ihrer eigenen Tradition wieder zu entdecken. Das kann heilsam sein.
Frage: Ein anderer Aspekt des Konzils von Nizäa war das Anliegen Kaiser Konstantins, das Reich zu befrieden. Er spielte eine wichtige einflussreiche Rolle. Sehen Sie heute irgendwo eine Region, ein Land, wo theologische Debatten von politischen Machthabern beeinflusst werden, angeheizt oder befriedet?
Renczes: Die Komplexität des Verhältnisses von Staat und Kirche erstreckt sich über die Jahrhunderte des Christentums. Man kann dies heute unter verschiedenen Modalitäten in jedem Land, in der die Kirchen ein Gewicht haben, beobachten, ob in Polen, in El Salvador oder in den USA ... Die Kirchen betrachten ihr Engagement in gesellschaftspolitischen Fragen als integralen Bestandteil ihres christlichen Auftrags. Infolgedessen können durchaus auch Interferenzen bei der Gestaltung der Gesellschaft mit dem Staat entstehen. Aus diesem Grund ist es erforderlich, Schnitt- bzw. Reibflächen immer neu auszutarieren.
Frage: Aber es ist nicht mehr so, dass von politischer Seite her kirchliche Lehre selbst beeinflusst werden soll, wie das unter Konstantin auch geschah. Es ist eher die Auseinandersetzung mit bestimmten kirchlichen Anliegen, sei es Migrationspolitik, Friedenspolitik, Sozialpolitik, zu denen manche Politiker "Bravo" sagen und andere: Nein, so geht das nicht?
Renczes: Ich vermute, dass weltweit staatliche Einflussnahme auf kirchliche Positionen faktisch nicht ausgeschlossen werden kann. Dieser Einfluss manifestiert sich heutzutage sicher meist nicht mehr in so expliziter Form, sondern vielmehr auf subtilere Weise, beispielsweise durch Fördervorgaben oder die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen. Eine Einschätzung, inwiefern in diesem Fall von einer politischen Einflussnahme gesprochen werden kann, will ich an dieser Stelle nicht vornehmen.
Frage: In der orthodoxen Kirche wäre das eher der Fall?
Renczes: Womöglich ja, wenn auch regional sehr unterschiedlich.
Frage: Politische Einflussnahme?
Renczes: Ich meine in Diktaturen im Allgemeinen.
Seewald: Aber auch in der Orthodoxie sind es andere Themen, in denen Beeinflussung stattfindet. Putin interessiert sich nicht für die Konsubstanzialität von Vater und Sohn. Ihm geht es um unmittelbar politischere Fragen.
Beim Zweiten Vatikanischen Konzil war die Theologie aus Europa ausschlaggebend.
Frage: Das Konzil von Nizäa wurde befeuert und beeinflusst von Vorstellungen aus dem griechischen Raum, aus dem syrischen, aus Ägypten. Wo erleben Sie heute, auch konfessionsübergreifend geschaut, Regionen, Länder, in denen theologisch besonders kreativ gearbeitet wird, von wo neue Impulse kommen?
Seewald: So allgemein kann ich das nicht sagen.
Frage: Keine Beispiele, die irgendwie auffallen?
Seewald: Es gibt interessante Theologinnen und Theologen, die jedoch überall sitzen können. Regional kann ich das nicht festmachen.
Renczes: Auf weltweiter Ebene lässt sich eine Verschiebung von Europa in andere Regionen beobachten. Theologie wird globaler betrieben. Zweifelsohne hat Lateinamerika kreative Zeichen gesetzt.
Frage: Also ist sie zumindest multipolarer geworden?
Renczes: Ich glaube schon, es gibt zumindest eine Bewusstseinsverschiebung. Auf dem 2. Vatikanischen Konzil vor 60 Jahren war es weitestgehend ausgemacht, dass die Theologie aus Europa kommt. Heute ist man sich dessen bewusst, dass es so etwas gibt wie den Blick aus Indien oder den aus Lateinamerika.
Frage: Die zweiteilige Nizäa-Konferenz ist eine Kooperation der Gregoriana in Rom und der Uni Münster. Zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und dem Vatikan hat es zuletzt immer etwas geknirscht, man hat sich gerieben – Stichwort Synodaler Weg. Klappt der akademische Austausch besser?
Seewald: Die Universität Münster ist nicht der Synodale Weg und die Gregoriana ist nicht der Vatikan. Deswegen sind wir nicht die Akteure in diesem "Knirschen", von dem Sie gesprochen haben. Wir stehen für zwei Institutionen, die Theologie betreiben. In diesem Zeichen steht auch unsere Doppeltagung, deren erster Teil in Rom und deren zweiter Teil in Münster stattfand. Im Rahmen dieser Tagung kommen Theologietreibende aus dem deutschen Sprachraum mit Kolleginnen und Kollegen aus dem italienischen Sprachraum ins Gespräch.
Der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster und der Gregoriana geht es – ich denke, Philipp, ich kann das für uns beide sagen – darum, Dialog zu befördern und ein Gespräch in der Kirche zu erleichtern. Das dies auch der Überwindung dieses "Knirschens", das Sie erwähnen, dienen kann, ist eine Nebenfolge, über die wir uns freuen.
Renczes: Wir in Rom treiben natürlich auch Theologie im Bewusstsein einer Verantwortung für die Kirche und im Sinne der Stärkung eines gemeinsamen Weges in der universellen Kirche. Gerade in der Internationalität ihrer Studierenden und Dozenten steht die Gregoriana unter dem Anspruch, die Vielfalt der Kirche zu versammeln. Ich weiß, dass der Vatikan dies auch so sieht. Die Unterstützung von Kooperationsprojekten kann als Indikator für die Hoffnung betrachtet werden, dass die Theologie eine Annäherung der Beteiligten begünstigt und in Interaktionen bestehende Missverständnisse ausgeräumt sowie Schwellenängste überwunden werden können.
