In Italien ist die Missbrauchsaufarbeitung noch voller Mängel
"Sie unternimmt nichts, sie unternimmt sogar noch weniger als der Vatikan." Scharfe Kritik von Francesco Zanardi an Europas größter Bischofskonferenz, der Italienischen. Seit 15 Jahren engagiert sich der Italiener, der als Minderjähriger selbst Opfer von Missbrauch durch einen katholischen Priester wurde, für eine Aufarbeitung dieser Thematik. Doch die läuft zäh in seinem Heimatland – trotz oder wohl wegen der mutmaßlich hohen Zahl an Missbrauchsfällen.
Mit mehr als doppelt so vielen Mitgliedern und Priestern wie in der katholischen Kirche in Deutschland hält sie der Leiter des Bereichs für disziplinarische Fragen im vatikanischen Glaubensdikasterium, John Joseph Kennedy, für eine der am stärksten betroffenen Ortskirchen weltweit.
Erst im Jahr 2019 hatte Italiens Bischofskonferenz (CEI) Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch verabschiedet, eine nationale Fachstelle für Kinderschutz ins Leben gerufen und damit begonnen, regionale Meldestellen einzurichten. Ihre Präventionsarbeit baut die CEI seitdem kontinuierlich aus. Seit 2022 veröffentlicht sie Analysen ihrer nationalen Maßnahmen.
Studie in Arbeit
Eine Studie zu Missbrauch durch Geistliche ist derzeit als multidisziplinäres Forschungsprojekt in Arbeit. Untersucht werden bereits bekannte festgestellte oder mutmaßliche Missbrauchsfälle, die zwischen 2001 und 2021 in den einzelnen Diözesen gemeldet und bearbeitet wurden.
Nicht nur der Münchner Jurist Ulrich Wastl, dessen Kanzlei bereits Missbrauchsstudien für Bistümer erstellt hat, empfindet diesen Zeitraum für eine wirkliche Aufarbeitung und Aufklärung zu kurz. Die Päpstliche Kinderschutzkommission begrüßt in ihrem neuesten Bericht über die weltweite Umsetzung von Schutzmaßnahmen zwar grundsätzlich die italienische Untersuchung. Doch auch sie fordert im üblichen diplomatischen Vatikansprech mehr Engagement: Die Kommission erkenne jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit, das Verständnis für das Phänomen des Missbrauchs langfristig zu vertiefen.
Dies ist nicht der einzige gesenkte Daumen in dem ausführlichen Bericht über das katholische Anti-Missbrauch-Programm in Italien. Zwar wurden "erhebliche Anstrengungen in die Entwicklung von Instrumenten und umfassenden Richtlinien zur Prävention und zum Schutz investiert", heißt es dort. Doch schon bei der Beantwortung der Fragebögen, mit denen die Kommission alle fünf Jahre den aktuellen Stand der Maßnahmen bei den einzelnen Bistümern abfragt, zeigte sich deutlich Luft nach oben. Nur 81 der 226 Diözesen schickten ihn ausgefüllt an den Vatikan zurück. Auch waren Zusammenkünfte mit einigen regionalen Bischofskonferenzen nicht möglich.
Insgesamt bemängelte die Päpstliche Kommission weiterhin große Unterschiede im Engagement zwischen den verschiedenen Regionen Italiens.
Insgesamt bemängelte die Päpstliche Kommission weiterhin große Unterschiede im Engagement zwischen den verschiedenen Regionen. So verfügten nicht alle Diözesen über stabile Stellen zur Meldung von Missbrauch und/oder für die Begleitung Betroffener mit ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen. Zudem fehle der Bischofskonferenz eine zentrale Stelle, die Meldungen entgegennehme und die ordnungsgemäße Bearbeitung der Fälle überwache.
Die formelle Zusammenarbeit mit Zivilbehörden bei der Reaktion auf Anzeigen müsse ausgebaut werden, ebenso der Dialog mit Missbrauchsbetroffenen, ihren Familien und Opfervereinigungen. Schließlich fordert die Kommission mehr Transparenz und Kommunikation im Umgang mit mutmaßlichen Missbrauchsfällen.
Die Reaktion auf den Bericht folgte umgehend. In einem Pressestatement beanstandet die Bischofskonferenz, darin enthaltene "keineswegs vollständige Daten", die aus einem freiwilligen Treffen mit der Kommission während des Ad-limina-Besuchs im Jahr 2024 stammten. Alle italienischen Regionen und Diözesen verfügten aktuell über einen diözesanen oder interdiözesanen Dienst zum Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Erwachsenen. Dies gehe aus einer eigenen Umfrage der Bischofskonferenz hervor, an der über 94 Prozent der italienischen Bistümer teilgenommen hätten.
Bischofskonferenz wendet sich gegen Kritik
Die diözesanen Stellen könnten auf qualifiziertes und ständig weitergebildetes Personal zurückzugreifen. Zudem habe die Zusammenarbeit mit zivilen Stellen zugenommen. "In allen lokalen Kirchen ist man sich bewusst, dass dies ein unumkehrbarer Weg ist", schreibt der Bischofskonferenz-Vorsitzende, Kardinal Matteo Zuppi.
Kritik im eigenen Land haben Italiens Bischöfe bei ihrer überschaubaren Aufarbeitungsstrategie nicht zu befürchten. Es fehlt an Druck aus Gesellschaft und Politik. Mehr noch: Die Päpstliche Kinderschutzkommission sieht in ihrem Bericht erhebliche kulturelle Widerstände gegen die Bekämpfung von Missbrauch in Italien. Kulturelle Tabus könnten es für Opfer und ihre Familien erschweren, über ihre Erfahrungen zu sprechen und diese den Behörden zu melden, heißt es.
In Italien berichten nur wenige Medien über das jahrzehntealte "Phänomen".
In vielen westlichen Ländern waren es Medienberichte, die auf den Missbrauch in der katholischen Kirche aufmerksam machten. Öffentlicher Druck bewegte die Ortskirchen zu einer Auseinandersetzung und bestenfalls Aufarbeitung des Skandals. In Italien berichten jedoch nur wenige Medien über das jahrzehntealte "Phänomen".
Italienische Pressevertreter sind bei Veranstaltungen mit Betroffenen und deren Verbänden selten anwesend. "Normalität", so der italienische Betroffenenvertreter Zanardi. Verbesserungen begännen beim gesellschaftlichen Bewusstsein, das dann die Politik bewege. Diesbezüglich aber verschließe die Presse leider den Kommunikationskanal, kritisiert er.
Seit Jahren sprächen die Opfer: "Nicht nur die Kirche, sondern auch die Gesellschaft in Italien muss bereit sein, zuzuhören und Konsequenzen aus dem zu ziehen, was die Überlebenden berichtet haben", forderte der deutsche Betroffenenvertreter Matthias Katsch am vergangenen Montag auf einer Pressekonferenz. Dort sprach der Vorstand des internationalen Anti-Missbrauch-Netzwerks "Ending Clergy Abuse" über ein vorangegangenes erstmaliges Treffen mit Papst Leo XIV. – vor Journalisten ausschließlich englisch- und deutschsprachiger Medien.
Wenig Interesse in Gesellschaft
Der nächste Schritt müsse eine tatsächliche Reaktion der italienischen Gesellschaft sein, von Politikern, Medien, so Katsch weiter. "Dies spielt eine sehr wichtige Rolle, um die italienische Kirche in die gleiche Richtung zu bewegen wie in anderen Ländern, in denen der Prozess später begonnen hat, wie beispielsweise in Spanien oder sogar in Frankreich."
Aber auch beim Bericht der vatikanischen Kinderschutzkommission sehen die Betroffenensprecher deutlichen Verbesserungsbedarf. Katsch nannte ihn "etwas enttäuschend". Zwar seien im Bericht der Päpstlichen Kommission viele sehr wichtige Themen angesprochen, auch sei er sehr gut formuliert gewesen und hätte Überlebende zitiert. Dennoch sei nicht klar, wie es nun weitergehen solle. "Meiner Meinung nach war er zu zurückhaltend. Die Kommission sollte viel dringlicher vorgehen und Schritte aufzeigen, die in naher Zukunft unternommen werden müssen."
