Chormusik kann ein Schlüssel zur eigenen Spiritualität sein
Advent und Weihnachtszeit nahen – in den Kirchen beginnt damit die Hochphase der Konzerte. Ob Orgelmusik oder Chorkonzert, ob Klassiker wie das Weihnachtsoratorium oder ein ausgefalleneres Programm: Die Gotteshäuser sind dann meist gut gefüllt – anders als zu regulären Sonntagsmessen.
Man müsse nicht unbedingt gläubig oder kirchennah sein, um ein Kirchenkonzert zu genießen, findet Kirchenmusikerin Kerstin Huwer. Die Regionalkantorin des Bistums Mainz beobachtet, "dass die Menschen das musikalische Erlebnis wollen: schöne, feierliche Musik, dargeboten in einem außergewöhnlichen, erhabenen Umfeld, was die meisten sakralen Bauten ja bieten". Und nebenbei könnten sie so auch einen Zugang zu den religiösen Inhalten erfahren.
14.400 Kirchenchöre mit 276.000 Mitgliedern
Laut Cäcilienverband gibt es derzeit über 14.400 Kirchenchöre mit rund 276.000 singenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Hinzukommen Projektchöre wie der von Kerstin Huwer. Rund 15 Menschen sind an diesem Abend im oberhessischen Alsfeld zur Probe zusammengekommen. Sie alle sind Chor-erfahren und wissen, worauf sie sich einlassen: Innerhalb weniger Wochen sollen für ein Konzert zum Ende des Kirchenjahres eine Messe des französischen Komponisten Léo Delibes, eine Motette von Felix Mendelssohn-Bartholdy sowie ein Chorstück des englischen Gegenwartskomponisten John Rutter einstudiert werden. Bei drei bis vier Leuten pro Stimmlage bedeutet das: Verstecken gilt nicht, jede Stimme zählt.
Die Motivation ist groß: "Ich habe schon immer gesungen – ich kenne das gar nicht anders", sagt etwa Musiklehrerin Antje Margolf. Aufgewachsen in der DDR, war für die 47-Jährige und ihre Familie die sächsische evangelische Landeskirche ein Raum der Geborgenheit. Das gemeinsame Singen und Musizieren gehörte dort zum Miteinander und zum guten Ton dazu. "Mir war daher früh klar, dass Musik in meinem Leben eine wichtige Rolle haben wird. Egal, ob kirchlich oder weltlich – ich singe alles." Margolf lacht: "Singen ist doch erwiesenermaßen gut fürs Wohlbefinden von Körper und Seele. Ich verstehe absolut nicht, warum es nicht jeder wenigstens mal ausprobiert. Man kann sich zusammen doch regelrecht glücklich singen."
"Wenn abends die Probe beginnt, ist das entspannend und löscht den Alltagsstress völlig weg", so Sängerin Melanie Jäger.
Auch die Bässe Josef Drabik und Aegidius Kluth, beide Mitte 60, haben schon an verschiedenen ähnlichen Projekten mitgewirkt. Hat sie speziell das Singen geistlicher Musik veranlasst, erneut mitzuwirken? "Früher war das nicht so mein musikalischer Schwerpunkt", sagt Drabik. Als junger Mann habe er in einer Band mitgespielt und lange im Dorfchor gesungen. Doch der habe sich aufgelöst, "und so hat es sich für mich ergeben, verstärkt bei den kirchlichen Chorprojekten mitzumachen".
Drabik räumt ein, "dass es mich inzwischen immer mehr berührt, wenn ich geistliche Chormusik mitsinge". Durch das Einüben setze man sich mit den Texten auseinander und spüre deren Bedeutung nach. "Insgesamt wird das Erleben eines Gottesdienstes durch das Singen in der Messe dann doch wesentlich intensiver", findet der Sänger. Kluth pflichtet seinem Bassnachbarn bei. "Für die Religion ist Musik sehr wichtig – es ist gewissermaßen eine Sprache der Religion." Singen mache Spaß und sei Ausdruck der eigenen Spiritualität. Für Kluth hat das auch eine musikalische Bedeutung, "denn es ist sozusagen das einzige Instrument, das ich beherrsche". Umso mehr freut sich der Sänger, dass der Chorgesang auch andere Menschen anrührt. "Geistliche Musik kann Freude verstärken, und sie kann auch trösten. Man muss sich nur darauf einlassen. Das gilt für Sänger wie für Zuhörer."
"Wenn abends die Probe beginnt, ist das entspannend"
Deshalb ist es Kantorin Huwer auch ein Anliegen, während der Proben und ebenso bei der Aufführung zu vermitteln, was der vertonte Text bedeutet, warum der Komponist ihn so und nicht anders vertont hat. Das gilt etwa für eine Friedensbitte wie die Motette "Verleih uns Frieden" von Mendelssohn, die der Chor gerade probt. "Es gibt Bittgesänge, vertrauensvolle und zuversichtliche Musik, Trost – alles kann musikalisch zum Ausdruck gebracht werden", sagt die Kantorin. "Und in den Wochen und Monaten vor Weihnachten sind die Menschen besonders empfänglich dafür."
Melanie Jäger spricht geistliche Musik zu jeder Jahreszeit an. Die 32-Jährige hat sich als Teenager nach eigenen Worten bewusst einem kirchlichen Jugendchor angeschlossen. "Das Singen war verbunden mit Stimmbildung und mit einer emotionalen Festigung", erinnert sich Jäger. Sie habe Mut dafür gebraucht: "Das tat mir in diesem Alter, wo alles im Umbruch war, sehr gut." Auch heute tut ihr das Singen gut; neben dem Projektchor singt sie regelmäßig in einem festen Chor. "Dann kann der Arbeitsalltag noch so hart sein: Wenn abends die Probe beginnt, ist das entspannend und löscht den Alltagsstress völlig weg." Singen in der Kirche ist für die gläubige Frau auch eine Form von Lobpreis. Und das sieht Jäger nicht allein so. Basssänger Drabik bringt es auf den Punkt: "Meine Großmutter hatte immer gesagt: 'Wer singt, betet doppelt.' Diesen Satz kann ich inzwischen ohne Wenn und Aber unterschreiben."
