"Die neue Türkei" – Traum oder Albtraum?
Einig ist man sich, dass das Wahlergebnis selbst nicht beanstandet werden kann. Es kam weder zu Behinderungen bei der Wahl, noch sind bislang Hinweise auf Manipulation bei der Auszählung vorhanden. Kritik gibt es dennoch. So bemängelt Rudolf Grulich, Türkei-Experte des päpstlichen Hilfswerkes "Kirche in Not", dass es keinen fairen Wahlkampf gab. Systematische Verleumdungen der kurdischen Partei als "terroristenfreundlich" hätten viele Bürger in der Türkei dazu veranlasst, lieber Erdogan ihre Stimme zu geben. Grulich kritisiert zudem die türkische Regierung für die Aufkündigung des Waffenstillstandes mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Erdogan als starker Mann
Anderer Meinung ist Colin Dürkop, Leiter des Auslandsbüros der Konrad Adenauer-Stiftung (KAS) in Ankara. "Auf den PKK-Terror nach der Wahl im Juni musste die Regierung natürlich reagieren", sagte er katholisch.de. Denn fast täglich sei es seitdem zu Anschlägen gekommen. Er verweist auf die "ruhige und terrorfreie" Phase, die das Land während der Regentschaft der AKP durchlebt hat. Bei der PKK sieht er dagegen kein Interesse an einer friedlichen Lösung des Kurdenkonfliktes. "Deren Geschäftsmodell ist Terror, sonst haben sie keine Grundlage", so Dürkop.
Die AKP-Anhänger sehen im türkischen Präsidenten den starken Mann, der das Land vor einem Abgleiten ins Chaos bewahren kann. "Wenn man zurückblickt in die Geschichte der Türkei, waren es immer Koalitionsregierungen, die das Land regelmäßig an den Rand des Ruins gebracht haben", erklärt Dürkop. Selbst viele der kurdischen Wähler, die noch bei den Juni-Wahlen der Kurdenpartei HDP ihre Stimme gegeben haben, seien deshalb zu großen Teilen wieder zur AKP zurückgekehrt.
Erklärtes Ziel der "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" ist "die neue Türkei". Ministerpräsident Ahmet Davotoglu spricht schon vom Begräbnis der "alten". "Damit spielt er auf die Bevormundung der kemalistischen Eliten in der Zeit vor der AKP-Regierung an", erläutert Dürkop. Der Kemalismus geht auf den Staatsgründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, zurück. Als die Republik 1923 ausgerufen wurde, führte Atatürk, "Vater der Türken", unter anderem das Prinzip des Laizismus ein, also der Trennung von Staat und Religion. Unter kemalistischer Herrschaft wurde deshalb beispielsweise das Tragen des Kopftuches im öffentlichen Raum verboten.
Westliche Reformen wie diese sollen in der "neuen Türkei" überwunden werden. "Eine ‚neue Türkei‘ soll neo-osmanisch, eine regionale Großmacht, sein, wie es das untergegangene Osmanische Reich war", beschreibt Grulich die Vision der neuen Republik. "Türkentum" und Islam würden von Erdogan gleichgesetzt. "Der Islam wird hier fast zur Staatsreligion erklärt." So sind es auch vor allem die Wertkonservativen, Religiösen, die für Erdogan und seine AKP stimmen.
Lange Liste von Herausforderungen
Die Liste der Aufgaben für die neue AKP-Regierung ist in jedem Fall lang. "Die größte Herausforderung für die neue Regierung ist es, den inneren Frieden im Land herzustellen und die Beschneidung der Pressefreiheit rückgängig zu machen", erklärt der Türkei-Experte von Kirche in Not.
Vor allem linke und oppositionsnahe Gruppierungen hatten der türkischen Regierung nach den Terroranschlägen in den letzten Monaten Versagen bei der Sicherheitsvorsorge und anschließenden Aufklärung vorgeworfen. Weiter nennt Grulich konkret die Förderung rückständiger Gebiete in Ostanatolien, die Bekämpfung der Korruption sowie die Eindämmung der Macht der Großgrundbesitzer, die ihre Klientel bei den Wahlen beeinflussen, als Aufgabenfelder der AKP-Regierung.
Eine direkte große Bedrohung und Herausforderung für die Republik sieht Dürkop im Islamischen Staat (IS). Denn seitdem die Türkei gemeinsam mit den USA Stellungen des IS bombardiert, sehen die Islamisten Erdogan als Gegner an. "Der IS bezeichnet den Präsidenten als den ‚Teufel‘. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, die derzeitige Regierung zu stürzen", berichtet der KAS-Korrespondent. Die Türkei befinde sich deshalb mittlerweile in einem Mehrfrontenkrieg: PKK auf der einen, IS auf der anderen Seite.
Einig sind sich Dürkop und Grulich, dass der Türkei eine Schlüsselstellung in der Flüchtlingsfrage zukommt. Zwei Millionen syrische Flüchtlinge befinden sich derzeit im Land. Acht Milliarden Dollar hat das Land bereits für Unterkunft und Versorgung der Schutzsuchenden aufgebracht. Weitere Hunderttausende Menschen aus Afghanistan, Pakistan und dem Nordirak warten an den Grenzen zur Türkei, in der Hoffnung, ihren Weg nach Europa antreten zu können. "Es geht darum, die Menschen in der Türkei zu halten. Denn von dort ist die Rückkehr nach Syrien oder den Irak realistischer als aus Deutschland", so Grulich. Ähnlich Dürkop: "Europa hat ein starkes Interesse daran, dass die Türkei ihre Grenzen besser schützt."
Nichts Schlechtes für christliche Minderheiten
Für Minderheiten wie die Christen im Land bedeutet der Wahlausgang laut Dürkop "auf jeden Fall nichts Schlechtes". "Es wird in Deutschland vielleicht nicht immer so wahrgenommen, aber den christlichen Minderheiten ist es unter dieser Regierung so gut wie nie in der 90-jährigen Geschichte der Republik ergangen", erläutert der KAS-Korrespondent.
„Den christlichen Minderheiten ist es unter dieser Regierung so gut wie nie in der 90-jährigen Geschichte der Republik ergangen.“
Er erinnert an die Rückgabe von Liegenschaften, die die kemalistischen Militärregierungen von jüdischen und christlichen Gemeinden beschlagnahmt hatten. Gerade in diesem Bereich der Minderheitenrechte habe es viele Fortschritte gegeben. Zentrale Forderung des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel bleibt die Wiedereröffnung des Priesterseminars Halki, das 1971 geschlossen wurde. "Erdogan ist bereit dazu, wenn in Athen die erste Moschee öffnen darf, wo 350.000 Muslime leben. Das ist ein politischer Kuhhandel", erklärt Dürkop.
Dennoch hat die Zahl der Christen in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten stark abgenommen. Innerhalb von 100 Jahren sank ihre Zahl von drei Millionen auf heute 100.000. Als Gründe nennt Grulich den Völkermord an den armenischen und aramäischen Christen, die Umsiedlung der kleinasiatischen Griechen nach dem Ersten Weltkrieg und die Migration der Christen verschiedener Konfessionen seit den 1960er Jahren.
Die christliche Minderheit wird in der Türkei zwar nicht verfolgt. Trotzdem gerät das Land immer wieder in die Kritik. So gibt es laut Grulich des Öfteren Probleme mit lokalen Behörden, wenn beispielsweise Muslime sich taufen lassen wollen. "Hier müssen die Christen in Europa wirklich mehr – ich sage bewusst 'Druck' auf Ankara ausüben, wie es im 19. Jahrhundert geschah, als 1856 der Sultan und Kalif Religionsfreiheit gewährte", wünscht sich der Türkei-Experte.