Gemeinsames Erinnern
Dann ziehen sie dem Klerus voran in die Kathedrale. Rund 60 Priester, dann kommen Bischöfe, ein Kardinal und ein Erzbischof. Gleiwitz am Abend des 31. August 2014. Deutsche und polnische Katholiken feiern gemeinsam in der Bischofskirche der Stadt eine Heilige Messe und erinnern an den Abend des 31. August 1939. Es ist die erste Auslandsreise von Kardinal Reinhard Marx als neuer Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt, dessen Bistum an die polnischen Nachbarbistümer Grünberg-Landsberg und Liegnitz grenzt, begleitet ihn.
Das Bistum Görlitz gilt als Brückenbistum zu Polen, gehörte bis 1945 zum Erzbistum Breslau, das durch den Zweiten Weltkrieg zu Polen kam. Für Bischof Ipolt sind die deutsch-polnischen Beziehungen Alltag. Der Termin in Gleiwitz dagegen ist nicht alltäglich. Er erinnert an den Tiefpunkt der deutsch-polnischen Beziehungen, an den Beginn des Zweiten Weltkrieges in der Nacht vom 31. August zum 1. September 1939.
Ein propagandistischer Vorwand
Der Vorfall von Gleiwitz sollte der propagandistische Vorwand sein. Er ist einer, in einer Kette von vielen anderen Provokationen, die in einen Krieg münden sollten. Einen Krieg, zu dem Adolf Hitler fest entschlossen war, weil er in seinem Rassenwahn "neuen Lebensraum im Osten" für die "arische Rasse" gewinnen wollte. Die Inszenierung dieser Nacht hat die SS übernommen. In polnischen Uniformen überfallen sie den Sender Gleiwitz und hinterlassen einen zuvor Ermordeten.
Es soll so aussehen, als hätten Polen den Radiosender angegriffen. Adolf Hitler erwähnt die "Gleiwitzer Provokation", wie der Überfall bis heute in Polen genannt wird, in seiner Rede am 1. September mit keinem Wort. Er behauptet stattdessen lediglich: "Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen." So entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, der Krieg gegen Polen sei notwendig und richtig.
Die Kirche stellte sich damals nicht geschlossen diesem Eindruck entgegen. Kardinal Reinhard Marx ist das an diesem Abend in der Kathedrale von Gleiwitz bewusst. Und er bedauert öffentlich: "Der 2. Weltkrieg ging ja über alle Vorstellung, was ein Krieg sei, weit hinaus. Es ging um Unterdrückung und Vernichtung, Vergewaltigung und Zerstörung. Dass dies von Deutschland ausging, erschüttert uns auch als Kirche in Deutschland bis heute. Und betroffen stehen wir vor der Tatsache, dass der Weltkrieg damals von der Kirche in unserem Land nicht als Unrecht geächtet wurde", sagt der Kardinal. Dass er die Gläubigen zuvor mit drei polnischen Sätzen mit unüberhörbarem deutschen Akzent begrüßt hat, sorgt fast bei allen Zuhörern für ein Schmunzeln. So entspannt war das deutsch-polnische Verhältnis nicht immer.
Regelmäßige Begegnungen durch Kontaktgruppen der Bischofskonferenzen
"Deutsche und Polen sind sich inzwischen sehr nah", sagt Kardinal Marx am Rande der Gedenkveranstaltung. Natürlich bleibe etwa der Unterschied der Sprache, vielen Deutschen falle es schwer, Polnisch zu lernen. Umgekehrt habe jedoch auch der Erwerb der deutschen Sprache in Polen etwas nachgelassen, weil Englisch an Bedeutung gewonnen habe, sagt Marx und betont, wie eng die Beziehungen auf verschiedenen Ebenen sind.
"Deutsche und Polen haben ja auch enge familiäre Bindungen. Viele Polen arbeiten in Deutschland. Wir haben große polnische Gemeinden in unseren Diözesen. Wir haben wirklich intensive Beziehungen, beispielsweise auch die regelmäßigen Begegnungen mit der Kontaktgruppe zwischen der Deutschen und der Polnischen Bischofskonferenz", sagt der Vorsitzende der Bischofskonferenz. Tatsächlich gibt es zu keiner anderen Bischofskonferenz so enge offizielle Kontakte, wie zur polnischen. Es sei schon "sehr, sehr viel gewachsen", sagt Marx. Man dürfe aber nicht zufrieden damit sein, sondern müsse weiter daran arbeiten.
Wolfgang Ipolt kennt diese Arbeit. Er fordert von seinen Pfarrern und Gläubigen eine Willkommenskultur. "In Görlitz haben wir über 1000 gemeldete polnische Katholiken. Das sind etwa 20 Prozent der Katholiken in der Stadt. Da müssen wir auch sprachlich auf unsere Nachbarn zugehen und beispielsweise Aushänge oder den Pfarrbrief auch ins polnische übersetzen", sagt der Görlitzer Bischof.
Gebete auf Hebräisch, Deutsch und Polnisch
In Gleiwitz stehen die Bischöfe inzwischen vor dem hölzernen 118 Meter hohen Sendemast des Senders Gleiwitz. Eine Bühne ist hier an diesem Abend aufgebaut. Zygmunt Frankiewicz, der Oberbürgermeister der Stadt, hat die Bischöfe zum Friedensgebet an den Ort eingeladen. Joshua Ellis, der Rabbi der jüdischen Gemeinde betet auf Hebräisch um Frieden, der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt auf Deutsch, der Kattowitzer evangelische Bischof Marian Niemec und der katholische Erzbischof Wiktor Skworc beten auf Polnisch.
Der Oberbürgermeister ist angesichts der Ereignisse in der Ukraine tief besorgt. In seiner Ansprache vor den Bischöfen und dem Rabbi zieht er einen Schluß: "Umso lauter müssen wir an diesem Ort, wo vor 75 Jahren der grausame Krieg begann, nach Frieden verlangen."
Von Markus Kremser