Eine Niederlage der Menschheit
Frage: Kardinal Marx, was für ein Gefühl ist es für Sie als Deutscher, hier in Polen zu sein - 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs?
Marx: Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Polen bin, aber mich bewegt es immer wieder, hier zu sein. Und in diesen Tagen ist mir wieder klar geworden, dass die deutsch-polnische Geschichte sehr speziell ist. Sehr herausfordernd, belastend, aber umso mehr auch fordernd im positiven Sinne. Und wenn man die ganze Geschichte anschaut, finde ich es doch erstaunlich, wie weit wir vorangekommen sind in dieser selbstverständlichen Begegnung und auch in der Versöhnung - aber abgeschlossen ist das nie! Begegnung, Versöhnung und Frieden sind keine Selbstläufer, sondern tägliche Arbeit.
Frage: Vor fast 50 Jahren gab es den wegweisenden Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischofskonferenz. Wie wichtig war dieser Schritt?
Marx: Man kann sie nicht hoch genug einschätzen, diese berühmten Worte der polnischen Bischöfe von 1965: Wir bitten um Vergebung und wir gewähren Vergebung. Das war ein großes Wort, das waren mutige Leute. Denn viele Polen - auch Politiker - waren darüber nicht erfreut. Auch in Deutschland gab es Kopfschütteln, etwa bei den Vertriebenen, die - und das kann man durchaus verstehen - noch nicht öffentlich sagen konnten und wollten, dass ihre Heimat endgültig für sie verloren war. Es ist für die junge Generation heute kaum noch zu begreifen, was das emotional bedeutet. Insgesamt war die Versöhnung ein langer und schwieriger Weg, doch ich denke, die Kirche hat ihn auf beiden Seiten gut begleitet. Hier zeigt sich auch, dass Vergebung und Versöhnung etwas zutiefst Christliches sind.
Frage: Sie haben gesagt, Versöhnung sei tägliche Arbeit. Wer leistet die heute?
Marx: Da sind wir alle gefragt! Europa lebt ja davon, dass Menschen sich begegnen. Und dabei dürfen wir von Deutschland aus Polen nicht außen vor lassen. Das gilt auch etwa für den Urlaub und für viele andere Begegnungen. 25 Jahre nach dem Mauerfall ist Osteuropa emotional oft nicht mehr so im Blickfeld, und deshalb sollten wir das wieder neu entdecken, gerade auch die jungen Leute. Ich fände es daher sehr sehr wichtig, wieder mehr Jugendbegegnungen zu organisieren.
Frage: Der Blick zurück auf den Zweiten Weltkrieg ist das eine. Ganz aktuell aber ist der Frieden auf der Welt auch wieder massiv bedroht - etwa durch die Terrormilizen des "Islamischen Staats"...
Marx: Vergleiche sind immer sehr schwierig. Der Zweite Weltkrieg und die Naziherrschaft waren von so außergewöhnlicher und unvergleichlicher Brutalität, mit einer solchen ideologischen Wucht. Der Schrecken über das, was passiert ist, wird nicht kleiner, sondern größer. Manchmal denkt man, der Abstand der Geschichte mildert das. Bei mir nicht.
Frage: Aber was kann die Lehre für heute sein? Lange Zeit hieß es "Nie wieder Krieg". Doch was ist mit Syrien, dem Irak, dem Sudan oder der Ukraine?
Marx: Auch hier müssen wir uns zunächst immer weiter anstrengen und Wege finden, Konflikte anders zu lösen als mit Krieg. Aber es stimmt, dass die augenblickliche Situation außerordentlich deprimierend ist, wenn man sieht, dass eben in manchen Gebieten die Protagonisten weiterhin glauben, sie könnten ihre Interessen rücksichtslos mit Gewalt durchsetzen.
Frage: Halten die deutschen Bischöfe deshalb unter bestimmten Bedingungen auch Waffenlieferungen und ein militärisches Eingreifen für gerechtfertigt - als letztes Mittel sozusagen?
Marx: Es muss im Extremfall auch möglich sein, Menschen, die mit dem Leben bedroht werden, zu verteidigen. Aber - wie hat es Papst Johannes Paul II. immer gesagt: Krieg und Gewaltanwendung sind in gewisser Weise immer eine Niederlage der Menschheit.
Frage: Eine Niederlage, die aber nicht immer zu vermeiden ist?
Marx: So sieht es im Moment aus. Aber wir dürfen dabei eines nicht aus dem Auge verlieren: Wenn Gewalt angewandt wird, um Menschen zu verteidigen, muss ich langfristige Konzepte haben. Dann muss ich überlegen, was geschieht danach? Und das vermisse ich im Augenblick doch etwas. Das ist vielleicht auch noch etwas zu früh. Aber ohne eine Überlegung, wie wir zu einem gerechten Frieden im Irak, in Syrien oder im Heiligen Land beitragen können, stolpern wir von einer Gewaltaktion in die nächste. Genau das ist ja in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder passiert.
Das Interview führte Elisabeth Rahe (KNA)