Früher für Zocker, heute für Jedermann
Die Telefonseelsorge selbst, die in der Hand der beiden großen Kirchen ist, gibt es bereits seit 1956. Der Startschuss für die Seelsorge im Netz fiel im Herbst 1995. Drei ihrer hauptamtlichen Mitarbeiter aus Köln, Krefeld und Hagen setzten auf die Website „Psychologische Beratung der Telefonseelsorge" einen einzigen kleinen Hinweis: "Wenn Sie Probleme haben, schreiben Sie an folgende E-Mail-Adresse ts@edina.xnc.com". Bis Ende des Jahres hatten sie drei oder vier Mails im Postfach "dieser kryptischen Adresse", berichtet Mitbegründerin Birgit Knatz. Im Jahr 1996 waren es bereits 365, "größtenteils junge Männer, die Fan der Computerspielfigur Lara Croft waren und nun erstmals eine Freundin suchten".
Doch dabei ist es nicht geblieben: 2014, also knapp 20 Jahre später, wurden 25.600 Mails geschrieben. Und auch die Beantwortung läuft nun anders. 350 Mitarbeiter kümmern sich um die Mailseelsorge, antworten dem Hilfesuchenden und bleiben mit ihm so lange in Kontakt, wie es nötig ist. Das können wenige Mailkontakte sein oder Hunderte, etwa wenn chronische Probleme über zwei bis vier Jahre dauern. 1996 gab es ein Dutzend ehrenamtliche Frauen um die 70 Jahre, denen die Mails ausgedruckt per Post zugeschickt wurden, die handschriftlich zurückgeschrieben haben und deren Antworten abgetippt und versandt wurden. Während anfangs 90 Prozent der Anfragen von Männern aus dem Umfeld von Hochschulen kamen, sind es heute zu 55 Prozent Frauen, die sich per Mail an das Seelsorgeangebot wenden.
Bald nach den Mails gab es die ersten Versuche, auch eine Chat-Seelsorge einzurichten. Hier war der Start etwas schwieriger. "Es wurden zunächst Chatrooms erprobt, die sich jedoch nicht als brauchbar herausstellten", erinnert sich Gunhild Vestner, Leiterin der Telefonseelsorge Recklinghausen. Außerdem musste für Datenschutz und für eine stabile Technik gesorgt werden: Ein abgebrochener Chat ist nicht nur ärgerlich, sondern auch frustrierend für den Hilfesuchenden. Seit dem Jahr 2000 gab es die ersten Möglichkeiten von Chats in Eins-zu-Eins-Situationen – und Weiterbildungen für die Ehrenamtlichen: "Im Chat sind sehr viele Menschen mit Trauma-Erfahrung weshalb die Mitarbeiter Experten zurate ziehen mussten, um angemessen reagieren zu können," so die Seelsorgerin.
Anonymität ermöglicht das Ansprechen von Tabuthemen
Die seit 1988 in der Telefonseelsorge aktive Vestner war nach anfänglicher Internet-Skepsis positiv überrascht darüber, wie viel Austausch an Emotionalität über das Chatfenster möglich ist und freut sich, dass mit diesem Angebot noch einmal andere Personenkreise erreicht werden. Denn es gibt Unterschiede zwischen denen, die Hilfe im Telefongespräch, per Mailkontakt oder im Chat suchen: Bei der Telefonseelsorge geht es meist um Einsamkeit oder Beziehungsprobleme. Per Mail und Chat, die noch einmal anonymer sind, weil man seine Stimme nicht preisgibt und einen Nickname nutzen kann, kommen direkter krisenhafte und schambesetze Themen auf den Tisch: Ängste und Depressionen kämen häufiger vor, berichtet Vestner. Ungefähr jeder Fünfte erzähle im Chat über Suizidgedanken, am Hörer sei das weniger als jeder Zehnte. Auch Menschen mit schweren traumatischen Erfahrung meldeten sich.
Das erfordert von den Beratern, die für jeden Chat ein Zeitfenster von 45 Minuten haben, eine besondere Ausbildung. Neben der Grundausbildung, die 80 bis 120 Stunden umfasst, müsse man mindestens zwei Jahre Menschen am Telefon beraten haben, um "in der Seelsorge sattelfest zu sein", sagt Vestner. Interessierte bekommen neben einer technischen Einführung in den Chat auch Informationen zur Gesprächsführung in einem festen Zeitfenster und Workshops mit Weiterbildungen.
So, wie sich das Internet stark verändert hat, taten es auch die Ratsuchenden und ihre Themen: nach den PC-Spielern kamen die Mädchen, die zu selbstverletzenden Verhalten neigten, dann Mobbing und Burn-Out. Das Internet wurde weiblicher, besonders in der Chat-Beratung ist das sichtbar: Dort sind heute 80 Prozent der Hilfesuchenden Frauen; mehrheitlich im Alter von 20 bis 30 Jahren. Aber immer häufiger melden sich auch Kinder und ältere Menschen. Heutzutage erreicht die Seelsorge im Netz Männer und Frauen mit ganz unterschiedlichen Lebenshintergründen. Denn das Internet gehört inzwischen zur Lebenswelt fast aller Altersgruppen und Milieus.