Thomas Seiterich über Kirchengemeinden und Flüchtlinge

Das Gute kommt von unten

Veröffentlicht am 01.12.2015 um 00:01 Uhr – Von Thomas Seiterich – Lesedauer: 
Standpunkt

Bonn ‐ Thomas Seiterich über Kirchengemeinden und Flüchtlinge

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Lange gaben die Christen in Deutschland ein eher tristes Bild ab. Die mit viel Geld geheizten Kirchen immer leerer, die Gemeinden überaltert, die Katholiken verstrickt in Priester- und Zölibats-fixierten Strukturdebatten. Man kreiste um sich selbst. Doch jetzt, in der Flüchtlingskrise, zeigen sich die Christen und ihre Gemeinden sehr lebendig. Denn sie werden gebraucht. Es ist, als ob der Geist in sie hineinführe. Sie bewegen sich und sie wachsen in der Herausforderung.

"Die Flüchtlinge retten die Gemeinden" hat der Hildesheimer Pastoralamtsleiter Christian Hennecke im Juni auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart diagnostiziert. Man kann seinen Satz auch umdrehen: Die Gemeinden retten die Flüchtlinge.

Mindestens 200.000 Menschen engagieren sich aktuell in den Kirchen für die Flüchtlinge. "Wo immer Flüchtlinge untergebracht werden, sind rasch die Gemeinden da; sie besetzen mit ihren Netzwerken den Raum, entfalten ihre patente Willkommenskultur - und den fahrenden Rechtsextremen bleibt buchstäblich kein Leerraum, ihre Hass-Aktivitäten zu entfalten", beschreibt der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh die Lage im Süden und Westen Deutschlands.

Was die Gemeinden tun, ist vielfältig wie die Weisen der Nächstenliebe in der Apostelgeschichte: Fahrdienste leisten, Deutsch unterrichten, Kontakte zum Sportclub knüpfen, zu Behörden begleiten, einfach Da-Sein, gemeinsam kochen... Die Gemeinden beraten, sie organisieren Wohnungen und Jobs. "Die Leidenschaft und Empathie der ehren- und hauptamtlichen Helfer ist kaum zu glauben“, sagt Claudia Beck, die Sprecherin des Deutschen Caritasverbandes.

Bedauerlicherweise wurde seit den 1960er Jahren die Gemeindediakonie und die Gemeindecaritas an die Experten der kirchlichen Wohlfahrtsverbände abgegeben. Darüber ging den Gemeinden mehr und mehr die Luft aus. Sozial gebraucht wurden sie immer weniger. Sie mutierten zu religiösen Freizeitvereinen mit Kirchenmusik und Gemeindehäusern, die häufig den Wohnzimmern der bürgerlichen Mittelschicht ähneln.

Doch nun, im Angesicht der Not, die keine Institution bewältigen kann, bricht die Kraft der Bergpredigt an der Basis durch und "weckt die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit". Die enorme Hilfsaktivität der Gemeinden verändert Deutschland, sie gibt den Kirchen ein Stück ihrer Glaubwürdigkeit zurück - und sie verändert die mithelfenden Christen und ihre Gemeinden. Wie häufig in der Geschichte der Kirchen zeigt sich: Das Gute kommt von unten.

Der Autor

Thomas Seiterich ist Redakteur der Zeitschrift "Publik-Forum".

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.
Von Thomas Seiterich