Versprecher mit Folgen

Veröffentlicht am 18.10.2012 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Mauerfall

Bonn ‐ Es ist der wahrscheinlich berühmteste Versprecher der jüngeren deutschen Geschichte: "Das tritt ... nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich", stottert Günter Schabowski am 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr in die Mikrofone des Internationalen Pressezentrums in der Berliner Mohrenstraße.

  • Teilen:

Eigentlich will das SED-Politbüro-Mitglied der versammelten Presse nur das neue Reisegesetz bekannt geben. Die hastig und unter großem Druck geschriebene Verordnung soll DDR-Bürgern unter bestimmten Voraussetzungen Auslandsreisen gestatten und damit den Forderungen nach größerer Reisefreiheit entgegenkommen. Doch was als Befreiungsschlag gedacht ist, beschleunigt nur den Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates – und daran hat Schabowski gehörigen Anteil.

Der Spitzenfunktionär verwickelt sich bei der Erläuterung des neuen Gesetzes in Widersprüche, die schließlich in jenem berühmten Versprecher gipfeln und noch am selben Abend zur Öffnung der Mauer führen. Vorgesehen war eigentlich, die DDR-Grenztruppen erst im Laufe des 10. Novembers über die neue Verordnung zu informieren. Und eigentlich sollten ausreisewillige DDR-Bürger erst ein Visum beantragen. Doch nach Schabowskis Versprecher ist das alles Makulatur.

Ost-Berliner strömen zur Grenze

Die Mitteilung aus der Pressekonferenz schlägt auf beiden Seiten der Mauer ein wie eine Bombe. Die "Tagesschau" der ARD bringt die Meldung an erster Stelle und textet dazu die Schlagzeile "DDR öffnet Grenze". Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in Ost und West die Nachricht "Die Mauer ist auf!".

Player wird geladen ...
Video: ©

Kurze Zeit später strömen neugierige Ost-Berliner zu Hunderten, bald zu Tausenden zur Mauer. Sie wollen sehen, ob die Meldung von der offenen Grenze stimmt. Die DDR-Grenzer wissen offiziell jedoch von nichts. Auch sie haben nur Schabowskis Pressekonferenz gesehen. Und an der Grenze gilt formal weiterhin der Schießbefehl.

Doch der Lauf der Geschichte ist nicht mehr aufzuhalten: Am Grenzübergang an der Bornholmer Straße drängeln gegen 22 Uhr rund 20.000 Menschen gegen die Grenze, auf einer Länge von zwei Kilometern stauen sich Trabbis, Ladas und Wartburgs. Immer lauter fordern die Ost-Berliner in Sprechchören den Durchlass nach Westen; die Lage droht außer Kontrolle zu geraten. Die überrumpelten Sicherheitskräfte entscheiden schließlich, die "Lautesten" durchzulassen. Sie bekommen aber einen Ausreisestempel auf das Foto in ihrem Pass – damit soll ihnen später die Rückkehr in die DDR verweigert werden.

"Das glücklichste Volk auf der Welt"

Aber auch diese Maßnahme ist nicht durchzuhalten: Zu viele DDR-Bürger wollen die Chance nutzen und in den Westen reisen. Kurz nach 23 Uhr kapitulieren die überforderten Grenzsoldaten vor den Massen und öffnen alle Schlagbäume. Die Mauer, die Berlin mehr als 28 Jahre brutal durchschnitt, ist tatsächlich offen.

Schon Minuten später befinden sich tausende auf West-Berliner Gebiet; Autos fahren durch ein Spalier jubelnder Menschen, die sich vor Freude und Rührung umarmen. West-Berlins Bürgermeister Walter Momper (SPD) fasst die Stimmung später treffend zusammen: "Wir Deutschen sind heute das glücklichste Volk auf der Welt."

In den folgenden Tagen und Wochen setzt sich die friedliche Invasion aus dem Osten in den Westen fort. Allein bis zum Mittag des 12. November werden rund 4,3 Millionen Visa für "Privatreisen" erteilt. Die friedliche Revolution in der DDR hat über die Machthaber gesiegt und der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt kann am 10. November auf einer Kundgebung voller Freude verkünden: "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört."

Von Steffen Zimmermann

Die Rolle der Christen

Das Engagement vieler einzelner Christen hat zum Mauerfall beigetragen. Die evangelischen Kirchen brachten ihre Klagen über das sozialistische Regime bei ihren Symposien auch vor westliche Fernsehkameras. Viele Gemeinden beteiligten sich an politischen Debatten und Friedensgebeten. Die katholische Kirche befand sich in der DDR stark in der Minderheit und scheute vor einer öffentlichen politischen Position zurück. Die Bischöfe äußerten sich umso kritischer innerhalb ihrer Gemeinden. International hatte die Reformbewegung einen mächtigen katholischen Fürsprecher: Papst Johannes Paul II.