Kardinal in der Schwebe
Zuletzt stellte er diese Fähigkeit bei der Herbstvollversammlung der US-Bischöfe in Baltimore unter Beweis. Wie bereits im Frühjahr brachen auch bei diesem Treffen wieder ganz offen Konflikte zwischen einer Minderheit franziskusnaher Bischöfe und einer eher konservativen Mehrheit auf. Ein Streit entzündete sich an dem Wählerleitfaden, der in einer leicht überarbeiteten Form zur Abstimmung stand. Als die Diskussion schärfer zu werden drohte, nahm der Kardinal das Mikrofon. Mit abgewogenen Worten und ruhigem Ton warb Wuerl dafür, "das Perfekte nicht zum Feind des Guten zu machen".
Anders gesagt: Er stimmte mit den Kritikern überein, die sich ein Dokument mit mehr Bezügen zu den Schwerpunkten von Papst Franziskus gewünscht hätten. Gleichzeitig hielt er es für falsch, wegen dieses Streits am Ende überhaupt kein Dokument in den Händen zu halten. Dass die Bischofskonferenz den Wählerleitfaden mit 210 zu 21 Stimmen annahm, darf der Kardinal durchaus auch als sein Verdienst betrachten.
Wuerl personifiziert Zentrum der US-Katholiken
Gemeinsam mit dem derzeitigen Vorsitzenden der US-Bischofskonferenz Joseph Kurtz (69) aus Louisville/Kentucky personifiziert Wuerl das gefühlte Zentrum der US-Katholiken - die wie der Rest der Gesellschaft unter wachsender Polarisierung leiden. In der Bischofskonferenz geben allerdings bislang noch die eher Konservativen den Ton an.
Wuerls Historie sieht ihn eher als einen Vertreter der traditionellen Linie. Papst Johannes Paul II. (1978-2005) schickte ihn als frisch geweihten Weihbischof Mitte der 80er-Jahre mit dem Auftrag nach Seattle, den allzu liberalen Erzbischof Raymond Hunthausen (1975-1991) zu flankieren. Bis heute betont Wuerl, dass die Diözese "echte Probleme" hatte - und zugleich, wie gut sein Verhältnis zum heute 94-jährigen Hunthausen noch sei. Er telefoniere immer noch regelmäßig mit ihm.
Konservative Kritiker innerhalb der US-Kirche halten den Kardinal für zu anpassungsfähig. Unbeliebt machte er sich bei ihnen mit seinem Auftritt bei der Familiensynode im Herbst im Vatikan, als Wuerl offen für Franziskus eine Bresche schlug. Mit den Widersachern des Papstes ging er scharf ins Gericht: "Ich frage mich wirklich, ob sie nicht bloß herausgefunden haben, dass sie diesen Papst nicht mögen."
Kritik von konservativer Seite
Die Fraktion um den konservativen Kardinal Raymond Burke (67) fragt sich etwas anderes: ob Wuerl überhaupt Überzeugungen habe, die sich nicht flexibel dem Zeitgeist anpassten. Dass der Washingtoner Erzbischof die Kardinalswürde verliehen bekam und Burke in einflussreichen vatikanischen Gremien ersetzte, verübelt ihm der Abgekanzelte bis heute.
Linktipp: Traditionalisten fordern Papst-Rücktritt
Traditionalistische Katholiken aus den USA haben Papst Franziskus dazu aufgefordert, seinen Kurs zu ändern oder zurückzutreten. In einem offenen Brief beklagen sie, der Papst hätte "der katholischen Kirche schweren Schaden zufügt".Für Franziskus ist Wuerl mit seinem Zentrismus attraktiv. Schließlich braucht der Papst in der gespaltenen US-Kirche Ansprechpartner, die weniger polarisierend wirken und seine Agenda trotzdem voranbringen. Wie es das Kirchenrecht vorschreibt, hat Wuerl mit Erreichen der Altersgrenze von 75 Jahren Mitte November beim päpstlichen Nuntius in Washington seinen Amtsverzicht angeboten. Dieser obligatorische Vorgang wird von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt. Oft lässt der Papst gerade die Leiter wichtiger Diözesen noch einige Jahre im Amt.
Sollte sich Franziskus gegen den gewieften Kirchenpolitiker mit sicherem Instinkt für das Machbare entscheiden, nähme der Kardinal das auch mit Gelassenheit. "Ich wäre bestens darauf eingestellt, meine Zeit mit Schreiben, Lesen und deutlich mehr Beten als bisher auszufüllen", sagte er kürzlich einem Reporter. Für wahrscheinlich hält Wuerl den Antritt seines Ruhestands aber wohl nicht. "Ich fühle mich wirklich genau an der richtigen Stelle mit diesem Papst", antwortet er. "Was er sagt, spricht mich an, weil er es mit dem Herzen eines Pastors ausspricht."