"Der Kapitalismus ist in einer Dauerkrise"
Frage: Herr Möhring-Hesse, laut einer neuen Oxfam-Studie besitzen die weltweit 62 reichsten Einzelpersonen genauso viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Kann Sie so eine Nachricht überraschen?
Möhring-Hesse: Diese Nachricht überrascht eigentlich niemanden. Die Zunahme der Einkommens- und damit auch der Vermögenskonzentration an der Spitze ist ein langfristiger Trend, der durch die Oxfam-Studie bestätigt wurde.
Frage: Warum wächst diese Kluft zwischen Arm und Reich?
Möhring-Hesse: Ich würde da nicht unbedingt von einer Kluft zwischen Arm und Reich sprechen, sondern von einer Kluft zwischen Superreichen und dem Rest der Welt. Es ist die Rückkehr zu einer Konzentration des gesamten, gesellschaftlich verfügbaren Reichtums an der Spitze. Diese Spitze distanziert sich nicht nur von den Armen, sondern auch von den Durchschnitts- und den Gutverdienern. Man könnte hier fast von einer Refeudalisierung unserer Gesellschaft sprechen.
Frage: Wie kommt es dazu?
Möhring-Hesse: Das liegt daran, dass diejenigen, die bereits viel besitzen, heutzutage aus dem "viel" leicht noch viel mehr machen können. In erster Linie hat das mit der steigenden Bedeutung von Vermögen in unseren modernen Wirtschaftssystemen zu tun. Immer weniger des gesellschaftlichen Reichtums fließt in die Realwirtschaft. Nur dort entstehen aber Löhne, die dann auch Kaufkraft bedeuten, mit der wiederum Güter gekauft werden. Stattdessen wandert das Geld in die Finanzmärkte. Man macht Geld mit Geld. Zusätzlich drücken sich die Reichen vor der Finanzierung öffentlicher Ausgaben, wie es ja auch die Oxfam-Studie mit dem Verweis auf die sogenannten Steueroasen beweist. So behalten die Reichen ihren Reichtum für sich.
Frage: Was kann man gegen die Steuerflucht führender Großunternehmen und reicher Einzelpersonen tun?
Möhring-Hesse: Auch da macht die Studie ja bereits einen Vorschlag: die Austrocknung der Steueroasen. Zum Beispiel dadurch, dass Konzerne ihre Gewinne oder Staaten ihre Steueranreize transparent machen müssen. Dadurch wächst der Druck. Allerdings brauchen wir beim Wort "Steueroase" nicht gleich an irgendwelche exotischen Inseln zu denken. Auch Deutschland hat "Steuersparmöglichkeiten", um es einmal so auszudrücken. Denken wir beispielsweise an das Stiftungsrecht. Wenn Reiche ihr Geld in Stiftungen stecken, dann tun sie damit möglicherweise etwas Gutes. Im Gegenzug umgehen sie damit aber die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Heißt: Sie zahlen weniger Steuern.
Frage: Was muss sich in Deutschland tun? Reicht unser bisheriger Spitzensteuersatz?
Möhring-Hesse: Unser Spitzensteuersatz ist ja eigentlich nur ein theoretischer, weil kaum jemand, der diese Stufe erreicht, die entsprechenden Steuern auch tatsächlich zahlt. Darüber hinaus endet der Spitzensteuersatz in der Tat zu früh. Wer überdurchschnittlich verdient, zahlt bereits den Spitzensteuersatz. Wer superreich ist, zahlt aber nicht mehr. Unser progressives Steuersystem funktioniert ausgerechnet an der Spitze nicht. Das führt dazu, dass bei zunehmendem Einkommen immer mehr Vermögen angehäuft werden kann. Wenn dann noch wie in Deutschland keine Vermögenssteuer erhoben wird, muss man sich über eine ungerechte Verteilung nicht wundern. Weil das aber weder demokratie- noch kapitalismusaffin ist, muss der Staat sich langsam etwas einfallen lassen.
Linktipp: Politiker fordern höhere Abgaben für Superreiche
Laut einer neuen Oxfam-Studie wird die Kluft zwischen den wenigen Superreichen und Milliarden armer Menschen auf der Welt immer größer. Politiker und Vertreter von Hilfswerken fordern nun ein politisches Handeln gegen diese Entwicklung.Frage: In Deutschland gibt es sicherlich soziale Ungleichheiten. Aber wie sieht es mit den Diskrepanzen zwischen einzelnen Staaten aus? Zum Beispiel zwischen Deutschland und den armen Ländern in Lateinamerika oder Afrika?
Möhring-Hesse: Natürlich kann man auch hier die Wohlstandsgefälle vergleichen. Das ist ein ernstes Problem, über das man nicht hinwegsehen sollte. Allerdings verlieren die Gefälle zwischen den einzelnen Ländern an Bedeutung, während sie innerhalb der Länder an Bedeutung gewinnen. Umso schlimmer ist es, dass auch auf den ärmeren Kontinenten eine Konzentration von Vermögen stattfindet. Auch dort haben sehr viele Menschen deshalb zu wenig, weil einige wenige Menschen viel und sogar viel zu viel haben. Das kann daran liegen, dass es eine grundlegende und weltweite Krise dessen gibt, was wir Kapitalismus nennen.
Frage: Auch Papst Franziskus hat den Kapitalismus vielfach scharf kritisiert. Steckt die Wirtschaft in einer Krise?
Möhring-Hesse: Wenn Sie einmal genau hinschauen, dann nimmt der Papst das Wort "Kapitalismus" so gut wie nie in den Mund. Er spricht eher vorsichtig von "unserer jetzigen Wirtschaft". Wir können aber aus guten Gründen sehr gerne von Kapitalismus sprechen. Und der ist in einer Dauerkrise. Wir sollten auch nicht versuchen, all die gegenwärtigen Krisen intellektuell auseinanderzuhalten: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Umweltkrise. Damit reden wir die Sache nur schön. Wir müssen uns vielmehr an den Gedanken gewöhnen, dass das alles zusammenhängt und es sich um eine große Krise handelt. Das könnte tatsächlich daran liegen, dass unsere Wirtschaftsordnung an ihr Ende gekommen ist. Sie schafft es nicht, die Krisen, geschweige denn unsere gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Und sie schafft es auch nicht, Güter und Dienstleistungen für alle Menschen zur Verfügung zu stellen.
Frage: Was ist die Alternative zu unserer jetzigen Wirtschaftsordnung?
Möhring-Hesse: Leider gibt es keinen Masterplan. Wer Ihnen eine Alternative zum Kapitalismus verspricht, der wird Sie betrügen und belügen. Aber es gibt natürlich Ansatzpunkte. Nehmen wir das Beispiel Klima. Auf dem Gipfel in Paris wurde einiges verabredet. Wenn das in die Tat umgesetzt werden soll, dann geht das nur durch eine gewisse Einschränkung dessen, was wir kapitalistische Marktwirtschaft nennen. Erdöl und Kohle, die sich weltweit oftmals in Privatbesitz befinden, würden schnell wertlos. Alternative Energien könnten dagegen vermehrt in gesellschaftlicher Obhut produziert werden.
Frage: Über die Worte des Papstes haben wir bereits geredet. Kann die Kirche denn selbst konkret etwas tun?
Möhring-Hesse: Das kann sie auf unterschiedlichen Ebenen. Nehmen wir zum Beispiel die Jesuitenmission. Die bereitet gerade aus entwicklungspolitischer Perspektive ein Projekt vor, dass die Besteuerung von Superreichen stärker in den Blick nimmt. Das ist wichtig. Denn nur wenn man das Thema in der Öffentlichkeit anspricht, kann man auch Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Unser Steuersystem muss aus den Kirchen heraus skandalisiert werden – auch auf die Gefahr hin, dass die Superreichen eben keine kirchlichen Stiftungen mehr unterstützen oder sonstige Zuwendungen zahlen. Auf der anderen Seite verfügt gerade die Kirche in Deutschland selbst über einen großen Reichtum. Da wäre es ein starkes Zeichen, wenn man zunächst weiter für Transparenz sorgt und dann auch bereit wäre, Teile des Vermögens zu versteuern.
Frage: Darf man sich als einzelner Christ dennoch über die Steuerbelastung beklagen?
Möhring-Hesse: Das ist eigentlich ein anderes Thema. Nur so viel dazu: Die Sanierung der Haushalte kann nicht allein die Aufgabe der Superreichen sein, sondern die aller Steuerzahler und damit der gesamten Gesellschaft. Deshalb wäre es kirchlicherseits auch ein edles Unterfangen, wenn sie generell für eine größere und ehrlichere Steuermoral eintreten würde. Was erwarten wir in öffentlichen Debatten nicht alles vom Staat? Wenn er all das jedoch leisten soll, was wir uns wünschen, dann müssen wir ihn auch mit unseren Steuern in die Lage dazu versetzen.