"Wer Tiere tötet, berührt das Geheimnis des Lebens"
Frage: Vor gut zwölf Jahren haben Sie mit Ihrer Dissertation theologische Argumente für eine neue Sicht der Tiere bereitgestellt. Stellen Sie einen Bewusstseinswandel fest?
Hagencord: Das sehe ich bei Studierenden. Anfangs haben viele die Beschäftigung mit den Tieren als "exotisches Zeug" belächelt. Das hat sich sehr verändert. Unter jungen Menschen gibt es eine höhere Sensibilität. Das führe ich auch auf die Arbeit von engagierten Leuten in den Schulen, Gemeinden und Umweltverbänden zurück. Von daher geht von den jungen Leuten hier Bewegung aus. Das ist auch angemessen, denn die werden ausbaden müssen, was ihre Eltern und Großeltern anstellen mit unserer Natur.
Frage: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Schließlich ist die Menschheit doch eher auf Unterhaltung, Ablenkung und Luxus gepolt.
Hagencord: Tatsächlich erlebe ich hier eine Ungleichzeitigkeit, denn der Hang zur Spaßgesellschaft besteht ja weiter. Dennoch steigt die Zahl derer, die sich nicht mehr in diesem Sinne amüsieren wollen. Das hat mehrere Ursachen. Vielen ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Ernährung bewusst. Und für die meisten Verbraucher ist es nicht die Frage, ob es noch einmal einen Nahrungsmittelskandal gibt, sondern wann und wie. Die Art der industriellen Lebensmittelerzeugung und der Tierhaltung hat viele Leute wach gerüttelt.
Frage: An welchen Themen machen Sie das fest?
Hagencord: Vegetarier oder Veganer werden nicht mehr pauschal als Spinner gesehen - im Gegenteil, es gilt als schick. Das wiederum ist ethisch begründet. Viele wollen nicht mehr dazu beitragen, dass Tiere leiden müssen. Darauf zielten auch die Proteste bei der Grünen Woche "Wir haben es satt". Und der Klimawandel führt zu der Frage: Können die Industrienationen weitermachen mit ihrem unverantwortlichen Lebensstil. Sie tragen Verantwortung für die Nachwelt, die natürliche Mitwelt und die sogenannte Dritte Welt. Spätestens seit dem Weltklimagipfel von Paris 2015 haben es sich die Industrienationen ganz neu auf die Fahnen geschrieben, die ökologische Katastrophe abzuwenden. Auch bei diesem großen Thema habe ich in den vergangenen zehn Jahren einen Bewusstseinswandel wahrgenommen.
Frage: Wo kommt da die Kirche als gesellschaftliche Kraft ins Spiel?
Hagencord: Nicht erst mit der Umweltenzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus! Papst Benedikt XVI. hat mit seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 viele überrascht, in dem er plötzlich die Grünen auf seine Seite zog. In unerwarteter Weise betonte er damals, was die Ökopartei sich auf die Fahnen geschrieben hat: nämlich die Würde der Erde. Damit hat er dazu beigetragen, dass das Thema auch bei den anderen Parteien stärker aufgegriffen wurde.
Die Enzyklika Laudato Si'
Am 18. Juni 2015 wurde die Enzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus veröffentlicht. Sie beschäftigt sich vorrangig mit ökologischen Fragen. Katholisch.de hat alles Wichtige rund um das Schreiben zusammengestellt.Frage: Wie wird die hochgelobte Umweltenzyklika von Papst Franziskus innerkirchlich umgesetzt?
Hagencord: Da bin ich ziemlich ernüchtert. Die erste Begeisterung über die Enzyklika und ihre praktische Umsetzung klaffen stark auseinander. Wenn es konkret wird, dann höre ich nicht mehr, als dass wir mehr Tischgebete üben sollten oder dass Eine-Welt-Gruppen in den Gemeinden den Text lesen sollen. Dabei lese ich die Enzyklika als Mahnung an die Kirche, Schöpfungstheologie in die Mitte der Verkündigung zu nehmen.
Frage: Was will der Papst genau?
Hagencord: Er schreibt auf vielen Seiten, dass wir uns endlich davon verabschieden müssen, nur den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Er redet vom Eigenwert der anderen Geschöpfe. Er lehnt es ab, die Erde als Ressourcenlager zu sehen. Damit leitet er einen Paradigmenwechsel ein. Ich bin gespannt, ob sich in der Bischofskonferenz und den Bistumsleitungen etwas tut. Mir kommt es so vor, dass dort - theologisch gesehen - die meiste Energie darauf verwendet wird, die hierarchisch verfasste und männlich dominierte Kirche zu legitimieren. Dabei ginge es jetzt darum, dass die Kirchen "leadership" in Sachen Schöpfungsbewahrung übernehmen.
„Der Kampf ums Grillwürstchen ist oft der Tanz ums goldene Kalb.“
Frage: Viele Gemeinden setzen Energiespar-Initiativen um. Wie können sie den Tierschutz fördern: Beim Pfarrfest keine Steaks mehr grillen, sondern Tofu-Würstchen?
Hagencord: Das kann eine Facette in dem ganzen Feld sein. Dass das schwer ist, weiß ich aus eigener Erfahrung, denn der Kampf ums Grillwürstchen ist oft der Tanz ums goldene Kalb. Ich sage: Weg mit diesem Fleisch aus industrieller Tierhaltung, her mit einer raffinierten lustvollen vegetarischen Ernährung. Ich würde das Thema Tierschutz aber höher hängen.
Frage: Inwiefern?
Hagencord: Wir müssen uns klar machen, über welche gesellschaftliche Macht die Kirche in ihren Krankenhäusern, Altenheimen oder Kitas verfügt, weil dort überall Kantinen sind. Warum nicht eine neue Allianz der Bistümer mit jenen Landwirten, die auf artgerechte Tierhaltung umgestellt haben und ihnen die Abnahme des Fleisches garantieren? Dann kann auch eine Spiritualität der Lebensfreude entstehen, wie der Papst sie fordert.
Frage: Im vorigen Jahr sind Hunderttausende Flüchtlinge zu uns gekommen, darunter viele Muslime. Wird sich dadurch beim Thema Ernährung etwas ändern?
Hagencord: Da ist tatsächlich ein ganz großes Feld zu beackern. Kürzlich habe ich vom Projekt "Faire Moschee" gehört. Genau wie viele Pfarreien wollen diese Moscheegemeinden verstärkt auf Ernährung, Einkauf oder Umweltschutz achten. Da ist ganz viel in Bewegung.
„Wenn wir Tiere töten, ist das mehr als das Herstellen von Lebensmitteln.“
Frage: Und was ist mit dem umstrittenen Thema Schächten?
Hagencord: Hier ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Denn wenn die Tiere fachmännisch geschlachtet werden, sterben sie relativ schmerzfrei.
Beim Schächten wird deutlich, dass das Schlachten von Tieren immer ein religiöser Akt ist. Damit verbunden ist eine Theologie des Respektes. Das Schächten stammt aus der biblischen Erzählung der Arche Noah, wonach nur Tiere gegessen werden dürfen, die kein Blut mehr haben. Juden und Muslime verstehen das so: Wer Tiere tötet, berührt immer das Geheimnis des Lebens und somit die Dimension des Göttlichen, weil das Blut Sitz des Lebens ist und somit das Göttliche repräsentiert. Wenn wir also Tiere töten, ist das mehr als das Herstellen von Lebensmitteln.
Frage: Können Christen hier von den Muslimen lernen?
Hagencord: Ja. Denn wir sind inzwischen in einer Kultur, in der der größte Schlachter Europas Schweine Rohstoffe nennt. Muslime dagegen sagen, das Schlachten von Tieren ist immer ein religiöser Akt. Und in einer Koran-Sure heißt es, man darf die Küken niemals getrennt von den Hennen leben lassen. Wenn man das mal runterbuchstabiert in die Hühnermast, dann Gnade den Wiesenhofs dieser Welt.