Die Kurzzeitpflege für schwerstbehinderte Kinder ist gefährdet

Wohin mit Anne?

Veröffentlicht am 02.02.2016 um 00:01 Uhr – Von Uwe Bork – Lesedauer: 
Soziales

Stuttgart ‐ Wenn Eltern schwerstbehinderter Kinder an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit kommen, brauchen sie Unterstützung. Doch Angebote wie das "Kindergästehaus" der Stuttgarter Caritas kosten viel Geld und sind deshalb in ihrer Existenz bedroht.

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Ursula Hofmann ist keine Rabenmutter. Sie will ihre Tochter keinesfalls abschieben, um für sich und ihren Ehemann freie Bahn zu haben. Aber ihre Anne hat einen seltenen Gendefekt, der sie gleich mehrfach schwerstbehindert sein lässt: Sie kann nicht sprechen, sie kann nicht essen und in ihrem Bauch steckt ein Schlauch, durch den im Abstand von jeweils einigen Stunden ihr Körper regelmäßig entlüftet werden muss, um sie nicht in Lebensgefahr zu bringen.

Ihre Eltern können mit Anne kaum kommunizieren, das vierzehnjährige Mädchen braucht Pflege wie ein Säugling. Sie zu betreuen, ist ein Vollzeitjob, der rund um die Uhr nach Aufmerksamkeit verlangt. Einen Luxus wie durchzuschlafen kann sich Ursula Hofmann daher nicht erlauben, ihre Tochter muss auch nachts vier- bis fünfmal versorgt werden. Jede Nacht, wohlgemerkt.

Familien am Rand der Leistungsfähigkeit

Für Fälle wie diesen, die jede Familie an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen, gibt es in Stuttgart bislang das sogenannte "Kindergästehaus" der Caritas. Diese Einrichtung nimmt Eltern von Kindern wie Anne mit aufwändigen Pflegeangeboten für jeweils ein paar Stunden oder Tage die Sorge um ihren Sohn oder ihre Tochter ab. Die körperlich wie seelisch höchstbeanspruchten Väter und Mütter sollen Zeit haben, wieder zu Atem zu kommen und wenigstens für einen kurzen Zeitraum auch einmal wieder an sich zu denken.

Verbände: Deutscher Caritasverband

Durch die Gründung des Deutschen Caritasverbands am 9. November 1897 konnte so die damals drohende Zersplitterung der sozialen Hilfsangebote auf katholischer Seite abgewunden werden. Erfahren Sie hier mehr.

Das Angebot ist gefragt. Bei der Caritas melden sich nicht nur Familien aus Stuttgart oder Baden-Württemberg, Wünsche nach einer Kurzzeitbetreuung kommen selbst aus anderen Bundesländern. Der Grund für diesen Andrang ist einfach: Betreuungsplätze der beschriebenen Art sind ausgesprochen knapp, - und in Zukunft könnten sie noch knapper werden. Die Stuttgarter Caritas hat nämlich angekündigt, ihr Angebot einer Kurzzeitpflege, die auch die Nächte einschließt, im Juli dieses Jahres auslaufen lassen zu müssen. Die Intensivbetreuung, die oft erfordert, dass eine Pflegeperson sich um ein Kind kümmert, ist für sie als freier Träger schlicht nicht mehr bezahlbar.

"Das wäre der Albtraum!" sagt dazu Ursula Hofmann, die schon jetzt mit ihrer Tochter wegen des Pflegestellenmangels in ihrer näheren Umgebung in das "Aufschnaufhaus" im rund 90 Kilometer entfernten Ulm ausgewichen ist. Auch Beate Harfmann, Leiterin des Kindergästehauses in Stuttgart, teilt die Einschätzung, dass auf die betroffenen Eltern eine Katastrophe zukommt.

Defizit von 100.000 Euro pro Jahr

Dennoch sieht sie keine andere Möglichkeit, als die von der Caritas angebotenen elf Kurzzeitpflegeplätze zur Jahresmitte wegfallen zu lassen: "Pro Tag und Kind zahlt die Caritas nach den gegenwärtigen Pflegesätzen 100 Euro drauf. Das machen wir jetzt zwar schon fünf Jahre lang, auf die Dauer können wir uns aber kein Defizit leisten, das uns Jahr für Jahr um die 100.000 Euro kostet." Selbst eine Einrichtung wie die Caritas, deren christlicher Auftrag sie zu praktischer Nächstenliebe verpflichtet und in deren Hintergrund die in Deutschland nicht gerade arme katholische Kirche steht, muss augenscheinlich rechnen.

Dies gilt umso mehr, als die Stiftungsmittel und die Spenden, die bisher zum Ausgleich des Defizits herangezogen wurden, nicht mehr so reichlich und nicht mehr so gleichmäßig fließen wie in früheren Jahren. "Wir müssen für unser Kindergästehaus aber Planungssicherheit haben", macht Einrichtungsleiterin Harfmann geltend, "die Eltern müssen sich auf uns verlassen können." Um die Notbremse der Caritas wieder zu lösen, wären vor allem höhere Pflegesätze nötig. Den größten Prozentsatz von ihnen übernehmen die Kassen, darüber hinaus muss aber auch noch Geld von den Kommunen und Landkreisen aufgebracht werden. Ob es hier zu den nötigen Aufstockungen kommt, ist trotz des gesetzlich verbrieften Rechts der Eltern auf Hilfe noch weitgehend offen. In Stuttgart will man beispielsweise erst den Ausgang eines Schiedsstellenverfahrens abwarten, das von der Caritas initiiert wurde. Im Übrigen zahle man bereits mehr als den Landesdurchschnitt, heißt es aus dem Rathaus.

Bild: ©Kindergästehaus Stuttgart

Das sogenannte "Kindergästehaus" der Caritas in Stuttgart nimmt Eltern von behinderten Kindern mit aufwändigen Pflegeangeboten für jeweils ein paar Stunden oder Tage die Sorge um ihren Sohn oder ihre Tochter ab.

Schützenhilfe in ihrem Kampf um die angemessene Bezahlung ihrer Leistungen hat die Caritas jetzt durch eine Online-Petition bekommen, die sich an die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer richtet und von ihr verlangt, die Kurzzeitpflege des Kindergästehauses zu sichern. Zwar liegt die Zahl der Petenten noch um einiges unter der erforderlichen Anzahl von 4.700 Unterzeichnern, die Initiatoren der Unterschriftenaktion im Internet sind jedoch optimistisch, das Quorum innerhalb der dafür zur Verfügung stehenden drei Monate noch zu erreichen.

Zur Solidarität berufen

Nach ihrer Meinung geht es in dem Konflikt schließlich nicht nur um die Sorgen und Nöte einer kleinen Minderheit. "Die vermeintlichen Ersparnisse bei den Pflegesätzen schlagen sich volkswirtschaftlich an anderen Stellen zehnfach oder hundertfach durch" heißt es im Petitionstext, und in der Tat dürfte auch sozialökonomisch niemand daran gelegen sein, dass betreuende Eltern unter der nicht endenden Belastung zusammenbrechen.

Wenn die Unterstützung für die Angehörigen schwerstbehinderter Kinder mangelhaft ist, ist das kein Problem einer kleinen Minderheit. Die fehlende Hilfe für Kinder wie Anne kann vielmehr jeden treffen: als Eltern, als werdende Eltern, als Großeltern, als Steuerzahler. Oder einfach als Christen, die zur Solidarität berufen sind.

Von Uwe Bork