Nur ein "Aufbruch light"
Vorausgegangen war dem Brandbrief ein Jahr der Krise, wie es die katholische Kirche selten zuvor erlebt hat. Die Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen des Berliner Canisius-Kollegs hatten eine Lawine ungeahnten Ausmaßes losgetreten. Nach und nach wurden weitere Fälle in fast allen deutschen Diözesen bekannt. Dazu kamen Skandale in anderen Staaten: Spanien, Irland, die USA, um nur einige zu nennen. Die Konsequenz war eine Welle der Empörung, gefolgt von sprunghaft ansteigenden Kirchenaustrittszahlen. Das Vertrauen in die Kirche war erschüttert.
Für die Unterzeichner des Memorandums war klar: Unmittelbar hatte der Skandal seine Ursache im "System". Verschweigen und Doppelmoral, Hierarchie und Gehorsam. Mittelbar ging es jedoch um grundlegende theologische Maßstäbe, die sich ihrer Meinung nach aus dem Evangelium ergeben müssten. Dazu zählten sie den unbedingten Respekt vor jeder menschlichen Person, die Achtung vor der Freiheit des Gewissens, den Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, die Solidarität mit den Armen und Bedrängten. Und ganz zentral: die Freiheitsbotschaft.
Theologen: Kirche braucht verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt
Daraus leiteten die Hochschullehrer konkrete Handlungsfelder ab. Sie forderten stärkere synodale Strukturen auf allen Ebenen der Kirche und Maßnahmen, um dem "erodierenden Gemeindeleben" entgegenzuwirken. Pfarreien würden zu immer größeren Verwaltungseinheiten, in denen Nähe und Zugehörigkeit kaum mehr erfahrbar würden, hieß es. Und: "Priester werden verheizt und brennen aus." Die Theologen kamen zu der in ihren Augen einzig logischen Schlussfolgerung, dass Gläubige künftig stärker an der Gemeindeleitung partizipieren müssten. Außerdem brauche die Kirche "verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt".
Die Kirche dürfe die Gläubigen zudem nicht bevormunden, erklärten die Professoren weiter. Das bedeute, Respekt zu haben vor den persönlichen Lebensentscheidungen, besonders in Bezug auf gleichgeschlechtliche Partnerschaft und wiederverheiratete Geschiedene. Darüber hinaus solle der Rechtsschutz und die Rechtskultur innerhalb der Kirche verbessert und die Liturgie individueller werden. Statt in Traditionalismus zu erstarren, müssten "Erfahrungen und Ausdrucksformen der Gegenwart" im Gottesdienst Platz haben.
Kurzum: Die Liste der Reformvorschläge war lang und die Reaktionen auf das Memorandum gemischt. Zustimmung kam zum Beispiel vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) oder den katholischen Frauenverbänden. Auch eine große Zahl an Religionslehrern solidarisierte sich. Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, zeigte sich dialogbereit. Es sei ein gutes Signal, dass sich auch die Wissenschaftler an dem Gespräch über die Zukunft von Glauben und Kirche beteiligen wollten, sagte er damals. Allerdings merkte er auch an, dass die Erklärung in einer Reihe von "in Spannung zu theologischen Überzeugungen und kirchlichen Festlegungen von hoher Verbindlichkeit" stehe.
Auch Kardinal Kasper war "maßlos enttäuscht"
Doch es gab auch deutlichere Kritik. Die Ersteller einer Online-Petition mit dem Titel "Petition pro Ecclesia" riefen die Bischöfe dazu auf, am Zölibat, der Lehre der Kirche, am traditionellen Familienbild sowie an der festgelegten Liturgie festzuhalten und auf Experimente zu verzichten. Innerhalb kürzester Zeit sammelten sie 15.000 Unterschriften. Auch Bischöfe wie Felix Genn aus Münster (Das Memorandum sei "nicht der Weg, der die Bewältigung dieser Krise leistet") und Heinz Josef Algermissen aus Fulda (Das Memorandum sei "allzu plakativ") schlossen sich an. Selbst Kardinal Walter Kasper, eigentlich bekannt für seine liberale Haltung, zeigte sich von dem Memorandum "maßlos enttäuscht". Die Zölibatsdebatte dürfe "keine lähmende Dauerdiskussion" werden, sagte er. Und dass gerade die Kirchen, die sich für die Frauenordination und die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare entschieden hätten, "deswegen in einer viel tieferen Krise stecken als die katholische Kirche".
Generell erschien vielen die kausale Verknüpfung von Missbrauchsskandal und den geforderten Reformen "nicht angemessen und eher beschämend konstruiert", wie es eine Gruppe von jungen Theologiestudenten formulierte. Im Großen und Ganzen verlor sich das Dokument in den Augen der Kritiker in Strukturfragen, statt zu einer religiösen Neubesinnung beizutragen. Außerdem würde die von außen auf die Kirche einwirkende Säkularisierung, gerne auch als "Gotteskrise" bezeichnet, dabei außer Acht gelassen. Auch die unterschwellige Verknüpfung von Zölibat und Missbrauch leite in die Irre. Einen wissenschaftlichen Beweis für einen Zusammenhang gibt es bis heute nicht.
Themenseite: Missbrauch
Der Missbrauchsskandal erschütterte die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Seit 2010 die ersten Fälle bekannt wurden, bemüht sich die Kirche um Aufarbeitung der Geschehnisse. Katholisch.de dokumentiert die wichtigsten Etappen.Doch was ist heute, fünf Jahre später, überhaupt von diesem Aufbruch geblieben? Bei den Missbrauchsfällen bemüht sich die Kirche um eine lückenlose Aufarbeitung. Der Vatikan hat mittlerweile eine Kinderschutzkommission eingesetzt und auch die einzelnen deutschen Diözesen sind um Aufklärung bemüht. Mit dem Trierer Bischof Ackermann hat die Deutsche Bischofskonferenz zudem einen eigenen "Missbrauchsbeauftragten". Dennoch gibt es immer wieder Rückschläge wie kürzlich im Bistum Hildesheim oder bei den Regensburger Domspatzen.
Die Frauenordination und die Abschaffung des Zölibats sind dagegen – zumindest vorerst – vom Tisch. "Ein dem Diakonenamt innerhalb des dreigliedrigen Ordo (Weihesakrament, Anm. d. Redaktion) entsprechendes Diakonat von Frauen hat es in den katholischen Kirchen legitim nicht gegeben", schrieb beispielsweise Kardinal Gerhard Ludwig Müller und schob so als oberster Glaubenshüter der katholischen Kirche weiteren Diskussionen einen Riegel vor. Unabhängig davon kommen die deutschen Diözesen aber zunehmend ihrer Selbstverpflichtung nach, mehr Frauen in kirchlichen Führungspositionen zu installieren, die keine Weihe benötigen.
Gute Ansätze bei Synodalität und Beteiligung der Gläubigen
Mehr hatten sich dagegen die Gegner des Zölibats erhofft, als der heutige Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin kurz vor seinem Amtsantritt verlauten ließ, dass die verpflichtende Ehelosigkeit "kein Dogma der Kirche ist, und man kann darüber diskutieren". Das war vor über zwei Jahren. Seitdem ist es in der Debatte wieder still geworden – abgesehen von einzelnen Vorstößen, wie sie beispielsweise der katholische Theologe und Psychologe Wunibald Müller immer mal wieder wagt. Allerdings kursieren regelmäßig Grüchte, dass Papst Franziskus über die Aufweichung des Pflichtzölibats nachdenke. Es bleiben jedoch vorerst Gerüchte "langjähriger Freunde" des Kirchenoberhauptes.
Zumindest in Ansätzen aufgegriffen wurde der Wunsch der Theologieprofessoren nach mehr Synodalität und Beteiligung der Laien auf allen Ebenen der Kirche. Nicht nur, dass es im Vatikan zwei große Bischofstreffen zum Thema Ehe und Familie gegeben hat. Nein, erstmals hat man dazu in einer weltweiten Umfrage die Meinung der Gläubigen eingeholt. Einziges Manko: Es gelang den Bischöfen in ihren Gesprächen höchstens in Ansätzen, eine Brücke zwischen der Lehre der Kirche und dem Leben der Menschen zu schlagen. Dass sich die kirchliche Lehre in Bezug auf wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle ändern wird, ist unwahrscheinlich. Das abschließende Dokument des Papstes steht allerdings noch aus.
Auch eine Ebene tiefer wurde diskutiert. Sowohl bundesweit als auch in den einzelnen deutschen Diözesen hat es in den vergangenen Jahren sogenannte Dialog- und Gesprächsprozesse gegeben, die es auch den Gläubigen ermöglichen sollten, am Zukunftsbild ihrer Kirche mitzuarbeiten. Vor allem die Form hat überzeugt. Ob aus den Anregungen, die der Abschlussbericht des überdiözesanen Gesprächsprozess "Im Heute glauben" enthält, jedoch tatsächlich Reformen erwachsen, bleibt abzuwarten. Verbindlicherer geht es dagegen bei der bereits mehr als zwei Jahre laufenden Diözesansynode in Trier vonstatten. Sie ist in diesem Jahrhundert die erste auf deutschem Boden und läuft noch bis Anfang Mai. Erste Beschlüsse haben die Synodalen dort bereits gefasst. Laien sollen demnach auch künftig stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Außerdem möchte man sich von den kleinteiligen Pfarreistrukturen verabschieden.
Genau hier kommt in den nächsten Jahren wohl auch die größte innerkirchliche Herausforderung auf die katholische Kirche in Deutschland zu. Zu Recht mahnten die Theologieprofessoren vor fünf Jahren, dass das christliche Gemeindeleben, der Ort, "an denen Menschen geistliche und materielle Güter miteinander teilen", in Gefahr ist. In vielen Diözesen sind die Umstrukturierungen der Pfarreien mittlerweile fast abgeschlossen, in anderen noch in vollem Gange. Fusionen führen zu immer größeren Seelsorgeeinheiten. Dadurch gehen Nähe und Identifikation verloren. Der Hirte kennt seine Schafe nicht mehr – und die Schafe sich teilweise untereinander auch nicht.
Ein falsch verstandenes Subsidiaritätsprinzip
Die Umbrüche selbst waren und sind dennoch notwendig, um der rückläufigen Zahl an Priestern wie auch an Gläubigen Rechnung zu tragen. So manches Mal war die Kommunikation allerdings schlecht und die Pfarreigründung zunächst nicht mehr als ein bürokratischer Akt der Bistumsleitung. Doch jetzt steht das Haus, wenn man so will. Es ist nur vielerorts noch nicht mit Leben gefüllt, weil man sich mit dem Prinzip "Großpfarrei" nur schwerlich anfreundet. Zu tief sitzt die Enttäuschung des eigenen, verlorenen Kirchturms. Zu sehr ist man noch verhaftet in alten Strukturen, Zuständigkeiten, Denk- und Verhaltensweisen. Das gilt für Hauptamtliche wie für die Gläubigen.
Gemeinde- und Pastoralreferenten traut man noch immer nicht zu, die Aufgaben auch wirklich zu übernehmen, für die sie qualifiziert sind. Vielen Priestern fällt es schwer, Seelsorger und Manager zugleich zu sein. Auch die einzelnen Gemeinden denken noch zu sehr räumlich statt vom Thema her. Jede Gemeinde bietet den eigenen Firmunterricht an, organisiert die eigenen Wallfahrten und Feste. Es ist ein falsch verstandenes Subsidiaritätsprinzip getreu dem Motto "Solange es noch geht, machen wir es alleine". Dabei bieten Großpfarreien auch die Chance, Kräfte für spezielle Angebote zu bündeln: für Familien, für Jugendliche, für die Alten und Kranken.
Genau hier an der Basis kann der notwendige Aufbruch beginnen, den die Theologen damals gefordert haben und der Kraft geben kann für all die anderen Reformen, die der Kirche noch bevorstehen. Es ist jedoch ein Aufbruch, der in den Köpfen beginnt. Solange das nicht der Fall ist, bleibt Reformen nur Strukturreformen. Dann ist es ein "Aufbruch light".