Sr. Elisabeth Jakubowitz stellt das vierte Werk der Barmherzigkeit vor

Nackte bekleiden

Veröffentlicht am 03.03.2016 um 00:01 Uhr – Von Schwester M. Elisabeth Jakubowitz SPSF – Lesedauer: 
Fastenimpuls

Bonn ‐ Während der Fastenzeit stellt katholisch.de die sieben christlichen Werke der Barmherzigkeit vor. Sieben Ordensleute erzählen dazu von ihrer Arbeit. Heute berichtet Schwester Elisabeth Jakubowitz über ihre Tätigkeit in einer Kleiderkammer.

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Was die Werke der Barmherzigkeit für mich als Ordensfrau bedeuten? Ich glaube, sie sind für mich eine Grundhaltung, über die ich nicht jeden Tag nachdenke wie über einen Arbeitsplan. In manchen Situationen werden sie mir jedoch als Entscheidungshilfe für mein Handeln im Alltag immer klarer. Von einer Begebenheit möchte ich Ihnen berichten:

Aufgeregt stürmt eine junge Frau in mein Caritas-Büro in Omsk in Westsibirien. Noch bevor ich sie begrüßen und nach ihrem Anliegen fragen kann, sprudelt es aus ihr hervor: "Ich war in der Kleiderkammer, aber ich habe nichts gefunden für meinen Sohn. In ein paar Tagen sind die Ferien vorbei und er hat nichts anzuziehen für die Schule! Fünf Monate habe ich auf diesen Termin in der Caritas gewartet, und nun finde ich nichts, was ihm passt." Irritiert schaue ich mir die Frau an. Sie trägt einen schicken Pelzmantel, ist adrett frisiert und wirkt auf mich durchaus nicht arm. Ich denke im Stillen: Über welche Beziehungen bist Du wohl im Sozialamt an den Bezugsschein für unsere Kleiderkammer gekommen? Mal wieder jemand, der auf dem Papier arm ist, in Wirklichkeit aber recht gute Nebeneinkünfte hat?

Schwester Elisabeth
Bild: ©Schwester Elisabeth

Die Werke der Barmherzigkeit sind für mich eine Grundhaltung, über die ich nicht jeden Tag nachdenke wie über einen Arbeitsplan, sagt Schwester Elisabeth.

Ich drücke ihr recht sachlich mein Bedauern aus und verweise sie an die Möglichkeit, im Sozialamt einen neuen Termin für unsere Kleiderkammer zu bekommen. Frustriert verlässt sie mein Büro. Ich bin verärgert über die Mitarbeiterinnen im Sozialamt und beschließe, das sofort zu klären. Immerhin ist unsere Hilfe für die Ärmsten gedacht und der Andrang ist so groß, dass es lange Wartezeiten für einen Termin gibt. Ich rufe die Fallmanagerin an und schildere ihr mit vorwurfsvollem Unterton die Situation. Ihre Antwort lässt mich noch heute schamrot werden:

Passende Kleidung schützt die Seele

"Schwester, lassen Sie sich nicht vom Äußeren täuschen. Diese alleinerziehende Mutter lebt mit ihrem achtjährigen Sohn in einem kleinen Zimmer in einem der heruntergekommensten Wohnheime der Stadt. Das Zimmer ist völlig leer. Sie haben kein Bett, keinen Schrank, keinen Tisch, keine Stühle. Sie schlafen auf dem blanken Fußboden. Alles, was sie haben, ist die Kleidung, die sie tragen. Den Mantel borgt sie sich bei der Nachbarin, damit sie im Winter überhaupt aus dem Haus gehen kann. Ihr Sohn ist gewachsen und hat nichts mehr anzuziehen, um in die Schule zu gehen."

Als ich den Hörer auflege, schwirren mir meine Gedanken wild durch den Kopf: "Kleider machen Leute?!" - wie wahr dieses Sprichwort doch ist. Ich habe die soziale Situation dieser Familie nur nach der Kleidung der jungen Frau bewertet! Müssen Arme denn wirklich heruntergekommen aussehen? Sind nicht Kleidung und äußeres Erscheinungsbild ein legaler Schutz der eigenen Würde und der Achtung vor sich selbst? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Passende Kleidung zu haben bedeutet also nicht nur, im sibirischen Winter geschützt zu sein vor Erfrierungen. Passende Kleidung schützt und wärmt auch die Seele.

Linktipp: Themenseite Heiliges Jahr

Vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016 findet das von Papst Franziskus ausgerufene "Heilige Jahr der Barmherzigkeit" statt. Diese Themenseite bündelt die Berichterstattung von katholisch.de zum Heiligen Jahr.

In den Krisenjahren versorgte unsere Kleiderkammer jährlich etwa 60.000 Bedürftige. Deshalb bekam jede Familie meist nur einen Termin im Jahr. Mit der Managerin im Sozialamt habe ich vereinbart, dass sie eine Ausnahme macht und dieser Frau kurzfristig nochmal einen Termin gibt, und zwar morgens als erste, damit die Auswahl und die Chance, etwas Passendes zu finden, größer sind.

Im Alltag noch aufmerksamer sein

"Nackte bekleiden" - die Begegnung mit der jungen Frau hat mir die Augen geöffnet für die tiefere Bedeutung dieses Werkes der Barmherzigkeit. Und sie hat mich vorsichtiger gemacht bei der Beurteilung anderer. Das Jahr der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus ausgerufen hat, und die alljährliche Fastenzeit sind für mich eine Einladung, in den Anforderungen des Alltags noch aufmerksamer zu sein für die Menschen, denen ich begegne, und für die Not, die manch einer hinter einer Fassade verbirgt.

Es ist gut, dass wir aus Fehlern lernen dürfen. Auch das bedeutet für mich Barmherzigkeit. In Russland gibt es ein Sprichwort: "Jeder im Dorf hat einen Faden gegeben und der Arme bekam davon ein Hemd." Es fällt mir manchmal ein, wenn ich in den Medien die endlosen Diskussionen höre zum Thema "Flüchtlinge".

Von Schwester M. Elisabeth Jakubowitz SPSF

Linktipp: Die Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus

Die Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus wurden 1845 von Franziska Schervier gründetet. Seitdem setzten sie sich für Arme und Notleidende ein, leisteten Gefangenen und Prostituierten Beistand und begleiteten zum Tode Verurteilte.