Brückenbauer im Namen Allahs
Für privates Sentiment dürfte dieser Tage jedoch wenig Raum seien. Auf dem Programm al-Tayyebs stehen stattdessen Vorträge vor Abgeordneten in Berlin und Wissenschaftlern in Münster, bevor er in den Vatikan weiterreist. Der Großimam wirbt für religiösen Dialog. Aber es geht auch um Politik.
Der 70-jährige Theologe und Philosoph aus Oberägypten gilt als moderat und bedächtig. Persönlich steht er dem Sufismus nahe, einer innerlichen, auf Askese und Meditation bedachten Form des Islam. Seine wissenschaftliche Laufbahn führte ihn nach dem Studium an der Al-Azhar nach Riad, Islamabad, Katar und auch an die Sorbonne nach Paris. Das spricht für eine gewisse Weltläufigkeit. In seinem Amt als Großimam schaffte es al-Tayyeb allerdings erst einmal nach Europa - das war vergangenen Juni, auf Vermittlung der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio zu einer interreligiösen Tagung in Rom.
"Konferenz der Weltreligionen" in Münster
Jetzt hat ihn die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, näherhin das von Mouhanad Khorchide geleitete Zentrum für Islamische Theologie, eingeladen. Der Titel Münsters als Friedensstadt von 1648 gibt das Thema vor: Al-Tayyeb nimmt am Mittwoch - nach einem Vortrag vor Bundestagsabgeordneten und Vertretern aus Religion und Wissenschaft über das "Friedenspotenzial des Islams" am Dienstag - in Münster an einer "Konferenz der Weltreligionen" teil.
Darin deutet sich auch ein versöhnlicher Kurs gegenüber dem westlichen Christentum an. Einen 1998 begonnenen Austausch der Al-Azhar-Universität mit dem Vatikan hatte al-Tayyeb Anfang 2011 auf Eis gelegt, weil er die Kritik des damaligen Papstes Benedikt XVI. (2005-2013) nach einem Anschlag auf eine Kairoer Kirche als unangemessen und als Einmischung in nationale Angelegenheiten bewertete.
Nicht dass al-Tayyeb keine Sympathie für Christen hätte: Die Worte Jesu in der Bergpredigt hätten ihn zu Tränen gerührt, bekannte er einmal. Als islamistische Terroristen Anfang 2015 in Libyen 21 koptische Christen ermordeten, nahm der Großimam an der Trauerfeier in der Markus-Kathedrale in Kairo teil. Terror mit Koranversen zu legitimieren, nannte er schon früher eine "Perversion der islamischen Religion". Der italienischen Zeitung "Corriere della Sera" erklärte er: "Ich glaube fest, dass die religiöse, ethische und kulturelle Freiheit ein heiliges Gesetz ist."
Die Al-Azhar mit ihrer mehr als 1.000-jährigen Geschichte wird gern als führendes Lehrinstitut des sunnitischen Islam bezeichnet, und die Sunniten stellen den überragenden Teil der weltweit 1,6 Milliarden Muslime. Das rückt den Großimam scheinbar in die gleiche Liga mit dem Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken. Doch anders beim Papstamt ist mit der Leitung der Al-Azhar keine höchste Lehr- und Disziplinargewalt verbunden: Es ist Ägyptens Präsident, dem der Scheich-al-Azhar seinen Posten verdankt. Seine Autorität beruht auf der Zustimmung der muslimischen Gemeinschaft.
Spirituelle Gemeinsamkeiten mit Papst Franziskus
Darin liegen Herausforderung und Stärke al-Tayyebs: Unabdingbar ist ein Talent zum Moderieren und Ausbalancieren der Kräfte; es gilt, extreme Interpretationen des Islam niederzuhalten, die der Regierung zuwiderlaufen, und den Rückhalt des konservativen islamischen Mainstream zu sichern. Letzteres wird nicht einfacher: Haben die Sunniten schon seit jeher keine klerikale Struktur wie die Schiiten, so fördern jetzt noch TV-Prediger und das Internet eine Dezentralisierung der Lehre.
Auf spiritueller Ebene dürfte al-Tayyeb mit Franziskus manches gemein haben: Anspruchslosigkeit im Materiellen, Sinn für die Würde der Armen, einen persönlichen Auftrag zu Frieden und Versöhnung. Es mögen aber auch die Zeitumstände sein - die Krise Ägyptens, die politische Konstellation im Nahen Osten, die Machtverschiebungen innerhalb der muslimischen Weltgemeinschaft -, die den Großimam mehr denn je zum
Brückenbauer werden lassen.