Nichts für Ungeduldige
"Das ist das absolute Highlight", sagt Georg Maria Roers. Der groß gewachsene Jesuitenpater steht zwischen Altar und Holzkreis. Die Position des Kreises, den er Britische Land-Art-Künstler Richard Long installiert hat, ist keineswegs zufällig gewählt. Roers zeichnet mit dem Finger eine Verbindungslinie in die Luft: "Hier korrespondiert er mit dem Altar aus Granit und links davon dem Tragekreuz aus Elfenbein." Das Zedernholz sei nämlich geradezu biblisch: "Die Zeder wird in der Bibel etwa 70 mal erwähnt und steht unter anderem für Erhabenheit, Gerechtigkeit und Schönheit." Aber es gibt auch einen aktuellen Bezug, meint Roers: "Das Holz ist uralt. Hier, vor dem Kreuz, wirft es die Frage auf, wie wir mit der Schöpfung umgehen, ob wir sie bewahren." Und: "So ist es auch ein Verweis auf die Umweltenzyklika Laudato si von Papst Franziskus."
Diese Gedanken zu dem Kreis aus Holz erschließen sich eher geduldigen Beobachtern. "Man muss sich tatsächlich damit beschäftigen", meint Roers. Er ist erzbischöflicher Beauftragter für die Bereiche Kunst und Kultur und Künstlerseelsorger der Erzdiözese Berlin. Gemeinsam mit Kurator Alexander Ochs hat er die Ausstellungsreihe "Sein.Antlitz.Körper." initiiert, zu der die Ausstellung in der Akademiekirche gehört: Für die Reihe werden Kunstwerke in drei weiteren katholischen und vier evangelischen Gotteshäusern sowie einer Synagoge ausgestellt. Außerdem nimmt die Erlöserkirche in Jerusalem als Ausstellungsort teil. Jeder Teil der Reihe hat zusätzlich einen eigenen Titel: "Prozession, Licht und Performance" lautet der für die Akademiekirche.
Hinter dem Altar, zwischen Tragekreuz und Tabernakel, steht eine Emailschüssel von Joseph Beuys. "Für Fußwaschungen" hat der Künstler hineingekritzelt. Er verwendete sie bei Performances in den 1970ger Jahren, bei denen er Besuchern die Füße wusch. Die Assoziation mit der Fußwaschung, die Jesus an seinen Jüngern vorgenommen hat, liegt nahe. "Auch ich habe hier in dieser Kirche am Gründonnerstag einigen Menschen die Füße gewaschen", erzählt Roers. "Und es freut mich sehr, dass wir die Schüssel hier ausstellen können." Zumal er sich schon seit über 30 Jahren mit Beuys beschäftige. Roers hält kurz inne. "Aber es geht gar nicht um die Schüssel selbst." Ganz im Sinne von Beuys‘ Theorie der sozialen Plastik gehe die Bedeutung über den Gegenstand hinaus. Hier betone die Schüssel die Fußwaschung als Demutsgeste. Der Altar, der Tabernakel, das Tragekreuz: Roers zieht wieder eine Linie mit seinem Finger. "Der Dienst am Menschen", sagt er. "Das ist das, was Jesus mit der Fußwaschung von seinen Jüngern forderte."
Darf man so viel deuten?
Darf man überhaupt so viel deuten? "Ja" meint Roers. "Das ist ja der Witz an der Kunst: Man darf interpretieren." Das könne für jeden Betrachter anders aussehen. "Ein gutes Kunstwerk, das ist vielschichtig. Es geht darum, sich drauf einzulassen." Das fasziniere ihn: "Wenn man sich näher mit Kunst befasst, ist das eine Bereicherung." Roers zeigt auf die Kunstwerke. "Das ist wichtig für uns. So werden wir aus dem Alltag herausgerissen und fragen uns, wozu wir eigentlich hier sind und was wir hier machen." Und dabei komme es nicht so sehr auf die Einstellung des Künstlers an. "Wir wissen nicht viel über den Glauben von Michelangelo, er hat trotzdem eine grandiose Theologie in seinen Werken geschaffen." Seit seiner Schulzeit begeistert sich Roers für die Kunst: "Ich hatte einen sehr guten Kunstlehrer", sagt er. "Kunst ist für mich Schlüssel zum Verständnis: Sie reagiert sehr schnell."
Mit dieser Reaktionsschnelligkeit sind wohl nur wenige Künstler so berühmt geworden wie Ai Weiwei: An der linken Wand der Kirche, zwischen zwei Kerzen, hängt sein Foto "Illumination". Der chinesische Künstler hat es 2009 mit seinem Handy aufgenommen. Es zeigt ihn und seinen Freund und Künstler Zuoxiao Zuzhou in einen Fahrstuhl mit zwei Polizisten, das Blitzlicht des Handys wird von den verspiegelten Wänden reflektiert. Aufgenommen hat Ai das Foto, kurz bevor er in Polizeigewahrsam genommen wurde – was er im Moment der Aufnahme noch nicht wissen konnte. "Der Blitz genau über Ai Weiweis Kopf – das wirkt, als gehe ihm ein Licht auf." Worauf auch der Titel, der übersetzt "Erleuchtung" bedeutet, passe: Nach dieser Erfahrung habe der Künstler verstärkt begonnen, politisch zu arbeiten.
Pater Roers deutet an die Decke der Kirche. Durch die Oberlichter fallen Sonnenstrahlen. "Das Licht ist auch ein Thema dieses Raumes." Er zeigt auf Glasplatten, die in unregelmäßigen Abständen zwischen die flachen Steine der Kirchenmauer gesetzt wurden. Je nach Sonnenstand wirken sie dunkel oder werden hell und transparent. Das scheint eine Arbeit der Bildhauer Doris Schälling und Jörg Enderle aufzugreifen: Hinter dem Tragekreuz hängt sie an der Wand, schlicht, unscheinbar. Ein weißer Stein, darunter Eisen: Es wirkt wie ein Miniaturregal. "Das Weiß greift das des Elfenbeines vom Tragekreuz auf." Roers‘ Zeigefinger macht wieder eine verbindende Bewegung.
Frauen mit acht Kleidungsstücken
An der rechten Wand hängen vier Fotos aus der Serie "Nine Editors" von Kyungwoo Chun, dazwischen eine Madonnenskulptur aus der Spätgotik. Auf den Fotos sind Frauen zu sehen, die viele verschiedene Kleidungsstücke tragen. Chun fotografierte neun Modejournalistinnen in den acht liebsten Kleidungsstücken der anderen. Die Fotos sind verschwommen; typisch für den koreanischen Künstler, der oft mit Langzeitbelichtungen arbeitet. "Die Farben Blau, Rot und Gold kommen dadurch gut heraus. In diesen Farben ist auch die Madonna gekleidet", erklärt Roers. Parallelen findet er in Haltung und Mimik der Modejournalistinnen, die wie die historische Mariendarstellung ungekünstelt wirken. Ähnlich auch der Fall der Kleider, die langen dunklen Haare, der blasse Teint: "Es wirkt, als wäre diese Madonna das Vorbild für die Fotos gewesen", meint Roers.
Was bedeutet denn der Titel der Ausstellungsreihe, "Sein.Antlitz.Körper."? Pater Roers überlegt nicht lange. "Die Frage nach dem Sein ist sehr alt", beginnt er mit "Sein", dem ersten Begriff. Das sei schon einer der Grundbegriffe antiken Denkens, "und dann hat das Sein gleichzeitig auch mit dem Zweifel an der Existenz zu tun." Der Künstler setze seine Ideen um ins Materielle und damit in die Existenz, "vielleicht wie ein Demiurg, ein Weltenschöpfer". Das Antlitz nun, der zweite Begriff, bringe das Sein mit dem Christentum in Verbindung. "Man spricht ja vom "Antlitz Christi" und vom Mensch als Ebenbild Gottes. Dann gibt es aber auch das Bilderverbot: Du sollst dir kein Bild von Gott machen." Auf einer anderen Ebene stehe "Antlitz" auch für eine Gegenüberstellung oder eine Konfrontation. "Das mit dem Körper ist dann klar", meint Roers zum letzten Teil: "Körper" umfasse die ersten beiden Begriffe, ohne Körper kein Sein und kein Antlitz. Roers zuckt mit den Schultern. "Letztlich ist es eine Ausstellung. Aber eine, die mit dem Raum spielt, und bei der andere, ganz besondere Dinge anklingen." Er empfiehlt Besuchern, Zeit und Einfühlungsvermögen mitzubringen. "Auch hier in der Ausstellung sind wir Pilger. Und wie bei einer Prozession muss man geistig und körperlich mitgehen, sonst fängt man damit nichts an."