Über den richtigen Umgang mit Behinderten in der Kirche

"An Jesu Handeln orientieren"

Veröffentlicht am 21.06.2016 um 00:01 Uhr – Von Janina Mogendorf – Lesedauer: 
"An Jesu Handeln orientieren"
Bild: © KNA
Interview

Bonn ‐ Anne Kunstmann ist für die Behindertenpastoral im Erzbistum München und Freising verantwortlich. Im Interview spricht sie über das Spannungsfeld zwischen Unsicherheit und gelungenem Miteinander.

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Frage: Frau Kunstmann, Papst Franziskus hat beim Tag der Begegnung in Rom die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in der Kirche kritisiert. Erleben Sie das auch in Ihrem Berufsalltag?

Kunstmann: Ja, natürlich. Es gibt Kirchen, die nicht barrierefrei zugänglich sind. Es gibt Veranstaltungen, an denen ein Rollifahrer nicht teilnehmen kann. Oft fehlen Gelder für Gebärdendolmetscher, die gehörlose Kinder bei der Vorbereitung auf die Erstkommunion unterstützen. Das gibt es wahrscheinlich überall, aber ich gehe davon aus, dass es keine bewusste Benachteiligung ist.

Frage: Woran liegt es dann?

Kunstmann: Oft ist es Unwissen oder Gedankenlosigkeit. Wie bei Autofahrern, die am abgesenkten Bordstein parken und nicht bedenken, dass sie damit Rollstuhlfahrer blockieren. Es gibt zu wenig Begegnung und zu wenig Wissen übereinander und ich glaube, dass sich die "Fremdheit" nur durch mehr Kontakt überwinden ließe. Vor dieser Nähe haben viele Menschen Angst. Auch ich hatte Ängste, als ich 1986 begann, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Aber nach wenigen Wochen war es kein Thema mehr. Weil ich ganz schnell gespürt habe: Das sind Menschen wie du und ich.

Frage: Und doch werden Menschen mit geistiger Behinderung gelegentlich sogar die Sakramente verwehrt, wie Papst Franziskus ebenfalls beklagt...

Kunstmann: In der Tat gibt es hin und wieder Unsicherheiten in den Pfarreien. Wenn es zum Beispiel um Kommunionunterricht für schwerbehinderte Kinder geht. Ich bin immer froh, wenn sich die Verantwortlichen bei uns melden, denn mir ist noch nie ein Fall untergekommen, in dem wir diese Bedenken nicht ausräumen konnten. Unsere Mitarbeiterinnen unterstützen auch gerne und kommen in die Gemeinde.

Seelsorge von A-Z: Menschen mit Behinderung

Annähernd sieben Millionen Menschen mit Behinderungen gibt es in Deutschland. Seelsorge an ihnen geschieht an den Schnittstellen Gemeindeleben und Angeboten der Behindertenhilfe.

Frage: Worin liegen die von Ihnen angesprochenen Bedenken?

Kunstmann: Da heißt es oft, kann das Kind überhaupt nachvollziehen, was bei der Eucharistie passiert? Ich frage dann zurück: Können wir das wirklich nachvollziehen?! Wer versteht in letzter Tiefe, was die Eucharistie bedeutet? Es ist letztlich das Geheimnis unseres Glaubens. Wir haben diese Frage von der Kirchenrechtsabteilung des Erzbistums prüfen lassen und die Aussage war: Wenn ein geistig schwerbehinderter Mensch zwischen dem Heiligen Brot und dem normalen Brot unterscheiden kann, ist es überhaupt kein Problem - wir finden immer eine Lösung, die sich an Jesu Handeln orientiert. 

Frage: Wie kann die Kirche Menschen mit geistiger Behinderung grundsätzlich besser einbeziehen?

Kunstmann: Ich spreche lieber von "so genannter geistiger Behinderung", weil der Begriff doch sehr eindimensional ist. Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten und anderen intellektuellen Handicaps sagen: Wir sind nicht geistig behindert. Wir können nur dieses und jenes nicht. Und das geht letztlich allen so. Wichtig ist, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Kirche gestalten, miteinander Gottesdienste vorbereiten und feiern, Pilgern oder Feste feiern.

Frage: Haben Sie da konkrete Beispiele?

Kunstmann: Bei uns im Erzbistum gab es vor einiger Zeit einen Lektorenkurs in Leichter Sprache. Menschen mit und ohne Behinderung haben diesen Kurs gemeinsam absolviert und wurden in einem offiziellen Festgottesdienst als Lektoren beauftragt. Ein gutes Beispiel für gelungene Inklusion war auch die "Barrierefreie Wallfahrt" in München. Menschen mit so genannter geistiger Behinderung waren als Helfer beim Fest der Begegnung eingesetzt und es waren die eifrigsten, schnellsten und wahrscheinlich auch die glücklichsten Helfer der ganzen Veranstaltung. Für sie war es wichtig, gebraucht zu werden und für die anderen sehr beeindruckend zu sehen, mit welchem Engagement sie dort ihren Dienst taten.

Bild: ©Foto Kiderle

Anne Kunstmann leitet die Abteilung Pastoral für Menschen mit Behinderung im Erzbistum München und Freising.

Frage: Auch der Wallfahrtsgottesdienst war barrierefrei gestaltet...

Kunstmann: Ja, er wurde in Leichter Sprache gefeiert und das Evangelium durch Pantomimen visualisiert. Für die gehörlosen Teilnehmer gab es Übersetzung in Gebärdensprache und der Gebärdenchor "Singende Hände" begleitete die Lieder. Für Menschen mit Sehbehinderung waren Liedtexte in Braille-Sprache vorhanden und an der Pforte der Barmherzigkeit ermöglichte eine Rampe auch Rollstuhlfahrern den ungehinderten Durchgang in den Dom hinein. Für sie gab es Platz in der Mitte, von dem aus sie dem Gottesdienst gut folgen konnten.

Frage: So viel Barrierefreiheit ist wohl leider nicht immer möglich...

Kunstmann: Trotzdem kann man eine Menge tun, um möglichst viele Menschen einzubeziehen. In einem Gottesdienst muss es mindestens ein Element geben, das einen anspricht. Für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung kann das Leichte Sprache sein, eine kurze aussagekräftige Predigt, Symbole, sinnenhaft erlebbare Teile oder eingängige Musik. Natürlich gibt es auch Menschen mit Behinderung, denen es zu viel ist, weil sie keine großen Gruppen oder Orgelmusik ertragen. Für sie kann es angenehmer sein, in ruhigeren Zusammenhängen Kirche zu erleben, etwa in kleineren Gottesdiensten in geschützten Räumen. Wichtig ist nur, dass jeder die Möglichkeit hat, seinen Glauben nach seinen Bedürfnissen zu leben und zu feiern.

Frage: Wie zufrieden sind Sie mit dem Stand der Inklusion?

Kunstmann: Wenn man bedenkt, dass es erst seit den sechziger Jahren überhaupt eine Schulpflicht für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung gibt, sind wir schon sehr weit gekommen. Das Bewusstsein ist gesellschaftlich und innerkirchlich deutlich angewachsen. Gottesdienste in Leichter Sprache sind kein Fremdwort mehr. Es gibt zudem Überlegungen, das Bischofswort von 2003 "unBehindert Leben und Glauben teilen" fortzuschreiben. Im März haben die Seelsorgerinnen für Menschen mit Behinderung auf Bundesebene begonnen, einen Aktionsplan für Barrierefreiheit anzudenken. All das macht Mut, denn es gibt noch sehr viel zu tun. Kirche wird erst durch Menschen mit Behinderung wirklich vollständig.

Von Janina Mogendorf