Ablass bis Zölibat: Die Kirche und ihre "Sünden"
"Die Kirche hortet Reichtümer statt den Armen zu helfen." "Sie verachtet und unterdrückt Frauen." "Sie hat historisch nicht nur im Dritten Reich vollkommen versagt, sondern auch Millionen Leben durch Hexenverfolgung und Inquisition auf dem Gewissen." Kommen Ihnen diese oder ähnliche Vorwürfe bekannt vor? Die Liste der Verfehlungen, die der katholischen Kirche immer wieder vorgehalten werden, ließe sich noch beliebig fortsetzen. Ob in persönlichen Gesprächen, den Medien oder im Internet – der gläubige Katholik wird permanent damit konfrontiert. Bei diesen Pauschalvorwürfen könnte man glatt meinen, die Kirche habe in ihrer Geschichte ausschließlich Schlechtes gebracht. Dass das so nicht stimmt, dürfte klar sein. Doch die wenigsten Gläubigen haben wohl spontan eine Antwort parat, wenn sie "ihre" Kirche gegen bestimmte Kritikpunkte verteidigen wollen.
Abhilfe kann jetzt ein kürzlich erschienenes Buch schaffen: "Von Ablasshandel bis Zölibat. Das 'Sündenregister' der Katholischen Kirche". Der Philosoph und Publizist Josef Bordat nimmt sich darin 36 populäre religions- und kirchenkritische Thesen vor und überprüft sie auf ihren Wahrheitsgehalt. Dass er dabei nicht ganz unbefangen vorgeht, konstatiert Bordat direkt in der Einleitung: Er schreibe "mit der Feder des gläubigen Christen katholischer Prägung und Überzeugung". Ein Omen dafür, dass es in dem Buch unsachlich und einseitig zugeht? Keineswegs. Bordat schreibt – angesichts der ehrlichen Einordnung seiner Person als gläubiger Katholik – erstaunlich nüchtern und differenziert. Er liefert historische Belege und wartet mit statistischen Daten auf. Dadurch kann er so manchen Kritikpunkt widerlegen – oder das vermeintliche Ausmaß einer Verfehlung deutlich korrigieren.
Inquisitionsprozess war "Glück im Unglück"
Zum Beispiel: Wie war das nochmal genau mit der Hexenverfolgung und der Rolle der Inquisition? Unschuldige Frauen und andersdenkende Menschen sollen im Mittelalter zu Zehntausenden – manche Kritiker sprechen von Millionen – auf den Scheiterhaufen der Kirche verbrannt worden sein. So lautet die landläufige Meinung, doch gehe diese an der historischen Wirklichkeit vorbei, wie Bordat schreibt. Grundsätzlich hätten Hexenprozesse vor weltlichen, nicht kirchlichen Gerichten stattgefunden. Die katholische Theologie habe darüber hinaus schon früh den Volksglauben an Hexerei und Zauberei als Irr- und Aberglauben abgelehnt, was im "Canon Episcopi" aus dem 10. Jahrhundert kirchenrechtlich festgelegt wurde – und über Jahrhunderte gültig blieb.
"Völlig falsch eingeschätzt" wird laut Bordat außerdem die Rolle der Inquisition, die – gemessen an der Gesamtzahl – nur an wenigen Hexenprozessen beteilig gewesen sei. Wegen einer wesentlich genaueren Prozessführung habe die Freispruchquote in Inquisitionsprozessen zudem bei etwa 98 Prozent gelegen – der Hexerei Beschuldigte, die vor einem kirchlichen Gericht standen, hätten folglich "Glück im Unglück" gehabt, folgert Bordat.
Als Beleg für die kirchliche Verantwortung werde schließlich oft der sogenannte "Hexenhammer" aus dem Jahr 1487 herangezogen – ein Handbuch der Hexenverfolgung aus der Feder des Dominikaners Heinrich Kramer (auch Institoris genannt). Doch dieses Buch sei nie von der katholischen Kirche in Auftrag gegeben und auch nach der Veröffentlichung nicht autorisiert worden, schreibt Bordat. Von der Inquisition abgelehnt, hätte das "Malleus Maleficarum" – so der offizielle Name des Hexenhammers – später allerdings in protestantischen Gebieten eine Renaissance erlebt und sei dort für Hexenprozesse herangezogen worden. Freilich: Auch die katholische Kirche könne von einer Mitwirkung an Hexenverfolgungen nicht vollkommen freigesprochen werden, doch eine ihr angedichtete Gesamtverantwortung und Opferzahlen in Millionenhöhe seien historisch schlicht unhaltbar, so der Tenor Bordats.
Eine "Schande" für die ganze Kirche, aber…
Neben diesem möglicherweisen populärsten historischen Vorwurf gegen die katholische Kirche wendet sich Bordat auch dem aktuell meistdiskutierten Thema zu: sexueller Missbrauch. Am Anfang des Kapitels steht die Bestandsaufnahme, dass es seit den 1950er-Jahren weltweit in kirchlichen Einrichtungen Missbrauchsfälle gegeben hat. Und "in der Tat ist jeder Einzelfall eine Schande für die ganze Kirche", schreibt Bordat. Fest stehe aber auch, dass Missbrauch ein Problem der ganzen Gesellschaft sei – und nicht etwa der Kirche im Speziellen. Bordat liefert in dem Zusammenhang die Zahlen der angezeigten Missbrauchsfälle seit den 1950ern. Zusätzlich gibt er die Ergebnisse eines Forschungsberichtes über Tätergruppen aus dem Jahr 2011 wieder. Das Ergebnis: Von 683 Fällen sexuellen Missbrauchs wurde "nur" eine einzige Tat von einem katholischen Priester begangen.
Dieser Realität gegenüber stehe jedoch eine mediale Berichterstattung, die Bordat als "einseitig, übertrieben und pauschalisierend, kurz: unfair" klassifiziert. Denn hier würde häufig der Eindruck erweckt, Missbrauch komme fast ausschließlich in kirchlichen Einrichtungen vor. Dies bleibe bei unbedarften Rezipienten nicht ohne Folgen, sondern münde in eine "gefährliche Verengung der Wahrnehmung". Vor allem im Internet – namentlich in den Kommentaren verschiedener Blogs und Foren – komme das zum Ausdruck: Immer wieder werde dort die Kirche pauschal als "kriminelle Vereinigung" oder "Verbrecherorganisation" abgestempelt.
Themenseite: Missbrauch
Der Missbrauchsskandal erschütterte die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Seit 2010 die ersten Fälle bekannt wurden, bemüht sich die Kirche um Aufarbeitung der Geschehnisse. Katholisch.de dokumentiert die wichtigsten Etappen.Auch den häufig anzutreffenden Vorwurf, der Zölibat führe zur Pädophilie unter Priestern, lässt Bordat nicht gelten. Er bezieht sich dabei auf Expertenstimmen, die bestätigten, dass sich sexueller Missbrauch nicht mit der priesterlichen Ehelosigkeit erklären lasse; wenn ein Priester pädophil sei, so sei er dies auch schon vor seiner Weihe gewesen. Bordat resümiert: Die mediale Verengung des Themas Missbrauch auf die Kirche sei ein Fehler, der dringend korrigiert werden müsse – nicht in erster Linie um der Kirche, sondern vor allem um der Opfer willen, "die tagtäglich von Nicht-Priestern missbraucht werden".
Kein pauschaler Freispruch
Die Kapitel über Hexenverfolgung und Missbrauch stehen exemplarisch für den Stil des gesamten Buches. Zu keiner Zeit unternimmt Bordat den Versuch, die Kirche pauschal von ihren "Sünden" freizusprechen. Die Verfehlungen werden durchaus eingestanden, jedoch soll die einseitige Sichtweise darauf aufgebrochen und schlichtweg falsche Behauptungen korrigiert werden. Dabei wird nicht jedes Argument alle Leser gleichermaßen überzeugen. Wenn es zum Beispiel um explizit theologische Themen geht – wie die Begründung der Marienverehrung oder der Gottessohnschaft Jesu –, dann sind das primär Dinge des Glaubens, die Bordat zwar aus katholischer Sicht erläutert, die einen Zweifler jedoch nicht unbedingt umstimmen werden. Zudem sind nicht sämtliche Aussagen gleichermaßen gut belegt, was aufgrund der Kürze der Darstellung – 36 komplexe Themenbereiche auf 290 Seiten – wohl auch nicht immer leistbar war. Kritiker werden also weitere Literatur heranziehen, um verschiedene Aspekte noch einmal zu überprüfen. Und das ist vielleicht die große Leistung: Das Buch motiviert dazu, sich mit bekannten Themen noch einmal ganz neu auseinanderzusetzen. Dafür liefert Bordat am Ende jedes Kapitels einige Literaturempfehlungen.
An der Oberfläche verbleibt das Buch dennoch nie. Fundiert und in einer allgemein verständlichen Sprache geschrieben, ist es nicht nur dem Gläubigen zu empfehlen, der mehr über die Kirche, ihre Geschichte und den Glauben erfahren will – oder argumentatives Rüstzeug für künftige Diskussionen benötigt. Auch Kirchenferne und -kritiker dürfen sich mit ihren Fragen und Argumenten durchaus ernstgenommen wissen.