Neues Mahnmal in Berlin erinnert an "Euthanasie"-Morde im Dritten Reich

Achtung vor dem Leben

Veröffentlicht am 02.09.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Bild: © KNA
NS-Zeit

Berlin ‐ In der Bundeshauptstadt erinnert nun ein weiteres Mahnmal an eine lange vernachlässigte Opfergruppe des Dritten Reiches: das für ermordete psychisch kranke und behinderte Menschen. An diese Opfer zu erinnern hieße auch, "der so unfassbar menschenverachtenden Unterscheidung zwischen 'lebenswertem' und 'lebensunwertem' Leben entgegenzutreten", sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), die die Gedenkstätte am Dienstag der Öffentlichkeit übergeben hat.

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Das Denmal befindet sich genau an der Stelle, wo sich bis 1945 die Organisationszentrale der "Euthanasie"-Morde befand; direkt neben der Philharmonie im Berliner Stadtteil Tiergarten. Es besteht aus einer transparenten, blauen Glaswand von 24 Meter Länge. Sie verläuft auf einer zur Mitte leicht geneigten dunklen Fläche aus anthrazitgefärbtem Bodenbelag.

Eine begleitende Freiluftausstellung informiert über die Geschichte der "Euthanasie"-Morde mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Der Gedenkort entstand nach einem Beschluss des Bundestags vom November 2011. Einen Gestaltungswettbewerb des Landes Berlin gewann der Entwurf der Architektin Ursula Wilms sowie des Künstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann.

Bild: ©Christof Rieken

Monika Grütters (CDU) ist Staatsministerin für Kultur und Medien.

Das vierte große Mahnmal in Berlin

Mehrere Initiativen hatten sich zuvor über Jahre für eine solche Stätte engagiert. Nach den Denkmälern für die ermordeten Juden, Homosexuellen sowie die Sinti und Roma ist es das vierte große Mahnmal im Berliner Zentrum, der einer Gruppe gedenkt, die von den Nationalsozialisten systematisch verfolgt wurde.

Bereits 1933 erließen die Nationalsozialisten ein Gesetz zur Zwangssterilisierung bei Erbkrankheiten, aber auch bei Alkololismus oder Schizophrenie. Der Zweite Weltkrieg radikalisierte die sogenannte Rassenhygiene noch einmal: Im Oktober 1939 unterzeichnete Hitler - rückdatiert auf den Kriegsbeginn am 1. September - den sogenannten "Euthanasie"-Erlass. Demnach konnte "nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden".

Es war das Todesurteil für europaweit rund 300.000 psychisch kranke und behinderte Menschen. Sie fielen der systematischen NS-Tötungsmaschinerie zum Opfer, weil ihr Leben nach Maßstäben der Nazi-Ideologen nicht lebenswert war. Versteckt wurden die Verbrechen hinter dem Wort "Euthanasie", was aus dem Griechischen übersetzt so viel wie "schöner, leichter Tod" bedeutet.

Lange waren die Massenmorde ein Tabuthema

Der Deckname der Aktion lautete "T4" - benannt nach der Adresse der Gründerzeitvilla in der Berliner Tiergartenstraße 4. Dort wurden die Morde organisiert, dan denen dutzende Ärzte beteiligt waren. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Zentrale dann beschädigt und in den 1950er Jahren abgerissen. Lange blieben der Massenmord an Behinderten und die rund 400.000 Zwangssterilisationen ein Tabu-Thema. Schließlich entstand auf dem Gelände der Mordzentrale Anfang der 1960er Jahre die Philharmonie - das Villengrundstück bildet den Vorplatz. Erst Ende der 1980er Jahre wurde dort zum Gedenken an die "Euthanasie"-Opfer eine bronzene Bodenplatte eingelassen.

Das nun vollendete Mahnmal ist ein Gemeinschaftsprojekt. Der Bund finanzierte es mit rund 620.000 Euro. Das Land Berlin stellte den bislang unbebauten Teil des Grundstücks sowie weitere Mittel für die Barrierefreiheit zur Verfügung. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte Projekt "Erinnern heißt gedenken und informieren" an der Technischen Universität München entwickelte das Konzept der Freiluftausstellung. Für Umsetzung und künftige Betreuung des Erinnerungsortes sind die Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Topographie des Terrors verantwortlich.

An einem authentischen Täterort errichtet

Zum Baustart des Mahnmals vor einem Jahr erklärte der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU), es solle ein Zeichen "gegen Hass, Verblendung und Kaltherzigkeit und für Toleranz, Mitgefühl und Achtung vor dem Leben" setzen. Das Besondere an dieser Gedenkstätte sei, dass sie an einem authentischen Täterort errichtet werde.

Neumann bedauerte, dass damals nur wenige Kirchenvertreter diese Gräueltaten der Nazis anprangerten. Zugleich nahm er jedoch den damaligen katholischen Bischof von Münster, Clemens August von Galen, davon aus: Er hatte die "Euthanasie"-Morde 1941 in seinen Predigten scharf verurteilt.

Von Birgit Wilke (KNA)

Erklärung von Monika Grütters

Die Erklärung von Monika Grütters (CDU), Staatsministerin für Kultur und Medien, im Wortlaut: "An die vom NS-Regime ermordeten Opfer der sogenannten 'Aktion T4' zu erinnern heißt auch, der so unfassbar menschenverachtenden Unterscheidung zwischen 'lebenswertem' und 'lebensunwertem' Leben entgegenzutreten. Jedes menschliche Leben ist es wert, gelebt zu werden – das ist die Botschaft, die von diesem Ort ausgeht! Der Gedenkort 'T4' konfrontiert uns heute mit der grauenvollen NS-Ideologie, die sich anmaßte, das einzelne Leben nach 'Nützlichkeit' und 'Brauchbarkeit' zu beurteilen. Sie lieferte die Pseudolegitimation für die NS-Lebensvernichtungsbürokratie und bestimmte zugleich die Motive und Gesinnung der üblen Verwalter und brutalen Vollstrecker. Der den Opfern der 'Euthanasie'-Morde gewidmete Gedenkort am historischen Täterort in der Tiergartenstraße wird dazu beitragen, die Erinnerung an die Menschen, denen man wegen ihrer Krankheit oder Behinderung das Recht auf Leben versagt hat, im öffentlichen Bewusstsein lebendig zu halten. Ich persönlich meine, dies sollte uns Heutigen auch eine Warnung davor sein, in aktuellen Diskussionen über das Leid Schwerkranker das Tötungsverbot leichtfertig zur Disposition zu stellen. Die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuarbeiten, ihrer Opfer zu gedenken und die Erinnerung auch in nachfolgenden Generationen wach zu halten, ist und bleibt eine immerwährende Aufgabe und moralische Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Der Anspruch an uns selbst, moralisch angemessen mit den Abgründen der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein identitätsstiftendes Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen, gehört zum Selbstverständnis unserer Nation."