Ausbildung zum Aushilfsheiligen: So wird man zertifizierter Nikolaus
Als ich mich an einem regnerischen Samstagmorgen Mitte November auf den Weg nach Köln mache, muss ich unweigerlich an jenen verhängnisvollen Nikolausvorabend vor über 20 Jahren denken. Es war das erste Mal, dass der Nikolaus zu uns nach Hause kam – und es sollte das einzige Mal bleiben. Ich hatte so viel Angst vor diesem bedrohlich wirkenden Mann in Rot und mit der Maske im Gesicht, dass meine Eltern aus Rücksicht auf mein kindliches Gemüt auf eine Wiederholung verzichteten.
Damals war ich fünf Jahre alt. Bis heute habe ich manchmal ein mulmiges Gefühl, wenn mir in der Adventszeit ein Nikolaus begegnet. Ich sehe in ihm die furchteinflößende Gestalt aus meiner Kindheit, die anhand von Drohungen und dem "Ich-weiß-alles-über-dich"-Eintrag in seinem Goldenen Buch kleine Seelen einschüchtern will, damit sie endlich brav sind. Dabei hat das mit dem traditionellen Nikolausbild eigentlich wenig zu tun.
Den Nikolaus heute sichtbar machen
Zum Glück gibt es Kurse, die angehenden und bereits erfahrenen Darstellern die Werte vermitteln, für die der heilige Nikolaus steht. Um zu sehen, wie so eine Ausbildung läuft, habe ich mich für eine eintägige "Nikolausschule" angemeldet. Veranstalter sind das kirchliche Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat und der Kölner Stadtverband des Bunds der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Sie haben sich auf die Fahnen geschrieben, den heiligen Nikolaus und die Legenden um ihn herum vorzustellen und dabei der Frage nachzugehen, wie er in der heutigen Zeit sichtbar werden kann.
Die Nikolausschule gibt es seit 2011, erzählt mir Adveniat-Mitarbeiter Henning Gerlach. Meist gibt es fünf Kurse pro Jahr in verschiedenen Städten, an denen im Schnitt sieben Leute teilnehmen. Diesmal sind es zwölf überwiegend ältere Männer – und eine junge Frau. Nach und nach kommen die Teilnehmer an. Viele haben einen großen Koffer dabei, in dem sie ihr Kostüm verstaut haben.
Als wir uns zu Beginn in der Runde vorstellen, stelle ich fest, dass nicht nur ich in Sachen Nikolaus einiges aufzuarbeiten habe. Markus aus dem Münsterland erzählt, wie ihm als Kind ein sturzbetrunkener Nikolausdarsteller mit einem Beil drohte, den Daumen abzuhacken, an dem er immer lutschte. Total verängstig sei er darauf aus dem Haus geflohen. Ich höre von schaurig daherkommenden Gestalten und von Säcken, aus denen Kinderbeine baumelten.
Derartige Geschichten kennt auch Reinhard Sentis. Der Nikolausexperte leitet die Schulung. Schon zu Anfang macht er klar, dass ein Nikolaus keinesfalls als Bestrafer fungieren dürfe. Im Gegenteil: Er müsse sich immer "voller Güte" zeigen. "Wenn man unter dem Bart lächelt, kommt das auch bei den Kindern an." Der Nikolaus soll nicht das nachholen müssen, was Eltern in ihrer Erziehung versäumt hätten. Das Konzept 'Sei brav und du bekommst ein Geschenk' sei eigentlich ganz und gar unnikoläuslich: "Der Nikolaus schenkt immer von sich aus, ohne eine Gegenleistung zu verlangen", so Sentis.
Zu einer anständigen Nikolausausbildung gehört in erster Linie, über den Heiligen Bescheid zu wissen. Gesicherte Erkenntnisse über ihn gibt es wenig: Er war im vierten Jahrhundert Bischof im kleinasiatischen Myra. Bekannt sind vor allem die Legenden- und Wundererzählungen, aus denen sich die Faszination speist. "Der Nikolaus ist ein Vorbild, dem wir so viel zutrauen, dass wir ihm noch mehr zuschreiben. In seiner Person und seinen Wundern spiegelt sich immer das Leben Christi wider", erläutert Sentis. Er verkörpere Sehnsüchte und Wahrheiten, die schon Jesus vermittelt habe. "Der heilige Nikolaus ist Patron all derer, die keine Lobby haben." Dazu zählen unter anderem Kinder.
Nikolaus' Botschaft in die Herzen tragen
Für Reinhard Sentis ist das Nikolausbrauchtum eine Herzensangelegenheit. Er kommt vom Niederrhein, wo der heilige Nikolaus groß gefeiert wird. "Ich möchte für den Nikolaus werben als jemand, der aus der christlichen Tradition heraus zu einer Person geworden ist, die in einer besonderen Weise auf Weihnachten weist. Er zeigt auf den menschgewordenen Gott, der uns zusagt: Du bist unendlich wertvoll." In Zeiten, in denen der Nikolaus Gefahr läuft, von der säkularen Figur des Weihnachtsmanns verdrängt zu werden, dürfe man diese spezifisch christliche Perspektive gerne neu entdecken. Wie man die Botschaft des heiligen Nikolaus in die Herzen der Menschen trägt, das sei Sinn und Zweck der Nikolausschule.
Wichtig an solchen Schulungstagen ist nicht nur die Theorie, sondern auch der Austausch untereinander. Wir bilden vier Gruppen, die den Ablauf eines Nikolausbesuchs konzipieren sollen. Ich habe mich mit Ulrich aus Düsseldorf und Stefan aus Köln zusammengetan. Wir tun so, als würden wir als Nikolaus eine Adventsfeier einer Jugendgruppe besuchen. Für Ulrich ist dieses Thema besonders relevant: Er besucht schon seit ein paar Jahren als Nikolaus die Ministrantengruppe seiner Enkelinnen und kann schwer abschätzen, wie seine Auftritte dort ankommen. Stefan hingegen ist sehr erfahren: Er betreibt eine eigene Nikolausagentur und ist schon rund 3.000 Mal aufgetreten.
Natürlich versuchen Ulrich und ich, von Stefans Erfahrung zu profitieren. Durch seine Ausführungen wird uns bewusst, was alles schieflaufen kann – oder besser: auf wie viele Dinge man achten muss, um einen passablen Nikolaus abzugeben. Entscheidend ist laut Stefan die Vorbereitung: "Am besten sucht ihr euch in der Gruppe immer einen Verbündeten, mit dem ihr euch absprecht. Er soll euch die Informationen geben, was im Laufe des Jahres so alles in der Gruppe passiert ist, er soll unmittelbar euren Besuch ankündigen, er soll euch dann auch bei der Durchführung helfen." Wenn der Nikolaus vor den Jugendlichen steht, sei es immer wichtig, diese in das Geschehen einzubinden. Ansonsten könne es passieren, dass sie geistig abdriften oder versuchen, zu stören. Nach dem Auftritt sei es ratsam, sich mit den Verantwortlichen rückzukoppeln, damit man es beim nächsten Mal gegebenenfalls noch besser machen kann.
Stefan ist bereits seit 23 Jahren als Nikolaus unterwegs – dennoch sind ihm solche Schulungen immer noch wichtig. Gerade der Austausch mit anderen Nikoläusen mache sie so wertvoll. "In Sachen Nikolaus sehe ich mich immer noch als Schüler", sagt er. Er habe Spaß am Organisieren und am Umgang mit Menschen, das mache ihm seine Tätigkeit als "professioneller" Nikolaus sehr leicht. Er findet, dass der Nikolaus besonders in Familien ein großer Zugewinn sein kann, wenn er den gütigen Mahner verkörpert: "Er kann da als eine Art Opa-Figur dienen, dem die Kinder Zutrauen entgegenbringen." Aber Stefan weiß auch, dass ein Nikolaus, der seine Aufgabe falsch versteht, auch viel kaputt machen kann.
Hochmotivierte Teilnehmer
Reinhard Sentis nimmt bei den Nikolausschulen immer hochmotivierte Teilnehmer wahr. "Da kommen Leute, die schon seit vielen Jahren als Nikoläuse unterwegs sind, die dann mit ganz neuen Ideen, Erfahrungen und Perspektiven nach Hause gehen." Es würden sich immer tolle Gespräche rund um das Brauchtum entwickeln. Sentis findet interessant, wie viele unterschiedliche Traditionen und Möglichkeiten es gebe, den Nikolaus in die Öffentlichkeit zu bringen. "Auch ich selber gehe nach solchen Schulungen immer bereichert nach Hause."
Was macht einen Nikolaus erst richtig zum Nikolaus? Das Gewand natürlich. Für einen Bischof ziemt es sich nicht, im roten Bademantel aufzutauchen. Um authentisch rüberzukommen, ist vor allem authentische – also liturgische – Kleidung notwendig: Dazu gehören ein Schultertuch, eine Albe, eine Stola, ein Zingulum zum Umgürten, ein Brustkreuz, ein Chormantel, ein Bischofsring, ein Bart und eine Perücke, ein Buch, eine Mitra und ein Bischofsstab. Wichtig ist dabei, dass die Utensilien gut passen, vor allem die Albe muss lang genug sein. Reinhard Sentis empfiehlt dazu noch schwarze Socken, schwarze Schuhe, und eventuell noch weiße Handschuhe. An einem Freiwilligen zeigt er Schritt für Schritt, wie das Ankleiden funktioniert. Danach darf sich jeder Teilnehmer ankleiden. Wo es nötig ist, hilft Sentis nach. So werde auch ich nach ein paar Handgriffen zum Nikolaus.
Nachdem ich das Gewand wieder ausgezogen habe, unterhalte ich mich mit Anna – der einzigen Teilnehmerin der Nikolausschule. Sie hat vergangenes Jahr bei der BDKJ-Adventsaktion in der Essener Innenstadt als "Nikolausa" Schoko-Nikoläuse verteilt – "weil wir einfach einen Männermangel hatten", sagt sie und schmunzelt dabei. Gestört habe das keinen, es habe keine dummen Kommentare von Passanten gegeben. Ohnehin sei das Geschlecht nicht entscheidend, um den Nikolaus gut zu verkörpern. "Ich glaube an die Idee – das ist das Wichtigste", betont Anna. Sie möchte in einer Welt, in der "so viel Schlechtes geschieht", das Gute weitertragen. Dabei sei ihr der heilige Nikolaus ein Vorbild.
Ähnlich sieht es Reinhard Sentis: "Der Nikolaus muss Freude an den Menschen haben und Gottes Liebe zu den Menschen verkörpern." Besonders gegenüber denjenigen müsse er aufmerksam sein, die nicht im Rampenlicht stünden. "Er muss auf die Menschen zugehen können und ihnen vermitteln, dass jeder Einzelne unendlich wertvoll ist und von Gott geliebt wird." Nikolausprofi Stefan ergänzt: "Es ist wichtig, dass ein Darsteller an den Nikolaus als einen selbstlosen Gabenbringer glaubt und im Sinne des Nikolaus handelt, damit seine Botschaft erhalten bleibt."
Die Botschaft des heiligen Nikolaus sei auch im 21. Jahrhundert noch brandaktuell, findet Reinhard Sentis. Doch an der Umsetzung müsse jeder Einzelne arbeiten – dafür müsse man kein Nikolausgewand tragen. "Jeder kann im Leben ein Nikolaus sein – auch ohne Mitra!", sagt Reinhard Sentis. Am Ende der Nikolausschule gibt es für jeden Teilnehmer eine Urkunde. Nun habe ich es schwarz auf weiß: Ich bin ausgebildeter Nikolaus. Künftig werde ich hoffentlich kein mulmiges Gefühl mehr haben, wenn mir irgendwo ein Nikolaus begegnet.