Christentreffen im "thüringischen Rom"
Wer nur die nackten Zahlen betrachtet, könnte Erfurt für eine Stadt halten, in der Religion nur eine untergeordnete Rolle spielt. Nur rund 6 Prozent der Bevölkerung in der thüringischen Landeshauptstadt sind katholisch, nur rund 14 Prozent evangelisch. Die Zahlen der beiden Religionsgemeinschaften in der Stadt liegen damit deutlich unter den bundesweiten Werten, nach denen immer noch mehr als 57 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirche angehören. Rein zahlenmäßig führen Katholiken und Protestanten in Erfurt im Vergleich dazu tatsächlich ein Schattendasein.
Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell, dass die Zahlen nicht das ganze Bild zeigen. Wer die 200.000-Einwohner-Stadt besucht, erkennt vielmehr, dass Erfurt mindestens architektonisch eine Stadt der Kirchen ist. 22 Gotteshäuser und fünf freistehende Türme ehemaliger Kirchen prägen allein die Erfurter Altstadt. Sie zählt damit zu den kirchenreichsten Altstädten der Republik und erhielt im Mittelalter wegen der hohen Zahl an Gotteshäusern sogar den Beinamen "Thüringisches Rom".
Der Erfurter Domberg als architektonische Gesamtkunstwerk
Auch das bekannteste Wahrzeichen Erfurts ist eine Kirche – oder genauer: ein Ensemble aus zwei Kirchen. Das einzigartige architektonische Gesamtkunstwerk von Dom und Severikirche thront majestätisch über der Altstadt – vom Domplatz führen 70 Stufen zu den beiden Gotteshäusern hinauf – und ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit der Stadt.
Der rund 80 Meter hohe Dom ist der älteste Kirchenbau in Erfurt und eng mit der Geschichte des Bistums Erfurt verbunden. Als die Diözese im Jahr 742 vom heiligen Bonifatius gegründet wurde, wurde kurz danach mit dem Bau einer ersten Kirche auf dem Domberg begonnen. Dieses Vorhaben wurde auch nicht aufgegeben, als die Diözese bereits 755 wieder aufgelöst wurde. Auf den Grundmauern der ersten Kirche entstand ab 1154 zunächst eine romanische Basilika, die dann im 13. und 14. Jahrhundert im Stil der Gotik umgestaltet wurde. Heute präsentiert sich die Kirche, die seit der Wiedergründung des Bistums Erfurt 1994 wieder als Kathedrale dient, als epochenübergreifendes Werk mehrerer Generationen.
Im Inneren des Doms beeindrucken neben dem Chorgestühl und dem Hochaltar vor allem die Glasfenster im Chor, die zwischen 1380 und 1420 geschaffen wurden und zu den wertvollsten erhaltenen Glasmalereien des Mittelalters zählen. 18 Meter hoch und rund 2,50 Meter breit erzählen die Fenster Ereignisse aus Bibel und Heiligenlegenden. Berühmt ist die Kathedrale darüber hinaus für die Gloriosa. Die "Königin der Glocken" wurde 1497 gegossen und ist die größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt.
Martin Luther, Meister Eckhart und Benedikt XVI.
Ein bedeutender Ort der Kirchengeschichte ist zudem das ehemalige Augustinerkloster im Zentrum Erfurts. Ab 1505 erlebte Martin Luther hier prägende Jahre als Mönch (schon 1501 war er schon als Student in die Stadt gekommen), bevor er nach Wittenberg übersiedelte und dort wenige Jahre später die Reformation auslöste. Erfurt mag deshalb beim Blick auf Luthers Leben immer im Schatten Wittenbergs stehen – dennoch darf sich die Stadt seit 2016 ebenfalls "Reformationsstadt Europas" nennen; ein Titel, der von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) neben Erfurt und Wittenberg bislang an 98 weitere Städte in 17 europäischen Ländern vergeben wurde.
Doch Luther ist nicht der einzige "Kirchen-Promi", der im Laufe der Jahrhunderte in Erfurt gewirkt oder der Stadt zumindest einen Besuch abgestattet hat. Die Liste bedeutender kirchlicher Persönlichkeiten mit Bezug zu der Stadt umfasst auch den spätmittelalterlichen Theologen Meister Eckhart, der vermutlich in Erfurt in den Dominikanerorden eintrat und 1294 Prior des Erfurter Dominikanerklosters wurde, sowie Papst Benedikt XVI. (2005-2013). Das Kirchenoberhaupt machte am 23. und 24 September 2011 im Rahmen seines Deutschlandbesuchs Station in Erfurt. Neben einem Treffen mit Vertretern der evangelischen Kirche im Augustinerkloster feierte er auch eine Messe auf dem Domplatz.
Darüber hinaus spielt Erfurt als derzeit noch einziger ostdeutscher Standort einer katholisch-theologischen Fakultät auch bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theologie eine bedeutende Rolle. Die Fakultät, die 13 Lehrstühle umfasst und rund 200 Studierende zählt, blickt auf eine lange Tradition zurück. Die erste Erfurter Universität wurde 1392 gegründet und war damit nach Heidelberg und Köln die drittälteste Hochschule Deutschlands. Nach über 400 Jahren Lehrbetrieb wurde die Hochschule 1816 geschlossen, bevor sie 1994 – vier Jahre nach der Wiedervereinigung – als reine geistes- und sozialwissenschaftliche Universität neu gegründet wurde.
Einziges Priesterseminar Ostdeutschlands
Deutlich länger als die Geschichte der neu gegründeten Universität reicht die Historie des theologischen Instituts zurück. Dies wurde bereits 1952 als Philosophisch-Theologisches Studium Erfurt neu errichtet und befand sich in kirchlicher Trägerschaft, bevor es 2003 in die Universität eingegliedert wurde. Eng verknüpft mit der katholisch-theologischen Fakultät ist das Erfurter Priesterseminar. In dem ebenfalls 1952 gegründeten Seminar wird der Priesternachwuchs für das Erzbistum Berlin sowie die Bistümer Dresden-Meißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg gemeinsam ausgebildet.
Im Haus des Priesterseminars hat zudem eine besondere Einrichtung ihren Sitz: Die Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP). Die im Jahr 2010 eingerichtete Stelle arbeitet im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und soll "die Weiterentwicklung des kirchlichen Zeugnisses in der Gegenwart" unterstützen. Dazu beobachtet sie gesellschaftliche und religiöse Trends, begleitet und vernetzt Verantwortliche für Pastoral und erschließt neue Wege, das Evangelium anzubieten und zu vertiefen.