Christliche Orientierungsjahre: Jugendliche entdecken ihre Berufungen
Elias Kiesling wollte ganz sicher gehen. Nachdem ihm zwei ältere Freunde von ihrem Orientierungsjahr nach dem Abitur erzählt hatten, war für ihn klar: "Das will ich nach der Schule auch machen". Elias bewarb sich noch vor der offiziellen Ausschreibung. "Das Gesamtkonzept hat mir einfach sofort zugesagt", so der heute 20-Jährige. Im Sommer 2017 begann für ihn das vollgepackte "Freiburger Orientierungsjahr", mit dem das Erzbistum junge Leute ansprechen will: Elias wohnte mit anderen Teilnehmern in einer WG, büffelte Altgriechisch und Hebräisch, absolvierte ein FSJ und besuchte Besinnungswochenenden und Schweigeexerzitien. Was für einen Durchschnittsjugendlichen ungewöhnlich klingt, war für Elias wie ein Sechser im Lotto. Auch heute noch klingt er begeistert, wenn er von dieser Zeit erzählt. Und der vorher schon vorsichtig anvisierte Berufswunsch bestätigte sich: Inzwischen studiert Elias im zweiten Semester Theologie. Er will einmal Pastoralreferent werden.
Das Freiburger Orientierungsjahr der Erzdiözese Freiburg ist eines von knapp einem Dutzend ähnlichen Angeboten verschiedener deutscher Diözesen. Schon seit Jahrzehnten existiert das "Abrosianum" der Diözese Rottenburg-Stuttgart, doch in den vergangenen Jahren sind immer mehr Orientierungsjahre dazu gekommen. "WG+" heißt es im Bistum Osnabrück, "Felixianum" in Trier, "Basical" in Augsburg. Als jüngstes startet ab August das "Christliche Orientierungsjahr Mainz". "Die kirchlichen Freiwilligenjahre sind ein echter Trend, eine neue Form der Verbindung von Berufungs- und Jugendpastoral", sagt Eileen Krauße, zuständige Referentin bei Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (afj), die die Orientierungsjahre aus überdiözesaner Perspektive beobachtet.
Jungen Leuten herausfinden helfen, was sie vom Leben wollen
Allerdings legen die Orientierungsjahre unterschiedliche Schwerpunkte. Eine Gruppe, zu der auch das "coj-Mainz" zählt, verfolgt einen recht breiten Ansatz. Zwar wohnen die Teilnehmer in einem Flügel des Priesterseminars zusammen in einer WG – aber ansonsten spielen explizit theologische Inhalte kaum eine Rolle. "Es geht einfach darum, dass junge Leute nach der Schule der eigenen Berufung nachspüren – was auch immer das dann etwa in Bezug auf ihre Berufswahl für sie heißt", sagt Markus W. Konrad vom Bistum. Jeder Teilnehmer absolviert ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einer Einrichtung der Diözese – sei es eine Schule, ein Krankenhaus oder auch ein Hospiz. Während dieser Zeit bekommen die jungen Leute dann eine intensive Begleitung: Angefangen mit regelmäßigen WG-Treffen, über gemeinsame Gottesdienste, Wochenend-Trips bis hin zum Coaching. Die Teilnehmer können auch individuelle Akzente setzen – zum Beispiel ein Instrument lernen. "Mit 18, 19 Jahren wissen junge Leute vielleicht noch nicht genau, was sie vom Leben wollen – und wir wollen ihnen helfen, das herauszufinden", sagt Konrad.
Einen anderen Anspruch haben etwa das Sprachenjahr im Borromäum in Münster oder das Freiburger Orientierungsjahr. Hier spielt die Möglichkeit, anschließend Theologie zu studieren, eine zentrale Rolle. In Freiburg absolvieren die Teilnehmer zwar auch ein FSJ. Das betrifft aber nur die zweite Jahreshälfte. In der ersten büffeln die jungen Leute vor allem Sprachen – gern auch Latein, Griechisch oder Hebräisch. Und mit der Freiburger Uni ist abgesprochen, dass die Kurse für das Theologiestudium anerkannt werden: "Durch die Sprachkurse habe ich mir im Studium einigen Stress erspart", sagt Elias. Das Latinum kann man hier innerhalb von sechs Monaten erwerben – eine recht sportliche Aufgabe, die dadurch bewältigbar werden soll, dass die jungen Leute in kleinen Gruppen lernen und sich in den sechs Monaten nahezu ausschließlich auf die Sprachen konzentrieren können. Noch nicht einmal über ihre täglichen Mahlzeiten müssen sie sich Gedanken machen – dafür gibt es eine Kantine.
"Es gibt inzwischen einen ganzen Dschungel an Freiwilligenjahren – da wollten wir schon ein klares Profil haben, um uns von den anderen abzusetzen", sagt Bernhard Pawelzik vom Erzbistum Freiburg. "Die Teilnehmer können herausfinden, ob das Theologiestudium etwas für sie wäre — wenn sie sich am Ende des Jahres für etwas anderes entscheiden, ist das auch ok". Zwei Priesteramtskandidaten sind aus den Teilnehmern seit dem Start 2014 schon hervorgegangen, einige studieren so wie Elias Theologie mit einem anderen Ziel. Manche machen aber auch etwas ganz anderes, wollen zum Beispiel Lehrer werden.
Manche Orientierungsjahre verzichten auch ganz auf die Arbeit in einer sozialen Einrichtung und setzen voll und ganz auf Wissensvermittlung und geistliche Erfahrungen. Beim "Ambrosianum Sprachenjahr" in Tübingen gesellen sich zu den Sprachen dann noch Fächer wie Philosophie und Bibelkunde. Das "Basical" in Augsburg ist besonders stark auf die Vertiefung des Glaubens ausgelegt. "Es ähnelt sogenannten Jüngerschaftsschulen, in denen sich die Teilnehmer voll und ganz auf die gläubige Nachfolge Jesu konzentrierten", weiß Eileen Krauße von der afj.
Die Orientierungsjahre sind auch für die geistlichen Leiter etwas Besonderes
Doch nicht nur die deutschen Diözesen suchen nach neuen Wegen, junge Leute für den Glauben zu begeistern. Mit dem "Soul Side House" in Hannover gibt es auch auf Pfarreiebene ein ähnliches Angebot, das 2019/2020 allerdings eine Pause einlegt. Die Jesuiten haben in Frankfurt die sogenannte "Zukunftswerkstatt SJ" gegründet, die jungen Menschen einzelne Auszeitwochenenden, Exerzitien, aber auch längere Aufenthalte anbietet. Und die Ordensobernkonferenz hat erst vor wenigen Tagen das "Freiwillige Ordensjahr" gestartet, bei dem Interessierte zwischen drei und zwölf Monaten in einem Orden mitleben können.
Die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz will die unterschiedlichen Angebote nun untereinander vernetzen. In diesem Jahr fand erstmals ein Fachtag statt, bei dem sich Vertreter der verschiedenen Anbieter über ihre gemeinsamen Erfahrungen austauschten. "Die Projekte sind oft auch für die jeweiligen geistlichen Leiter etwas Besonderes, weil die sich ja mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen und eng mit den Jugendlichen zusammenarbeiten", sagt afj-Referentin Krauße. Zumindest aus Sicht des Freiburger Pfarrers Bernhard Pawelzik ist es die Mühe wert, wie er sagt: "Wenn die Teilnehmer am Ende des Jahres auf mich zukommen und mit einem Strahlen in den Augen sagen, dass sie jetzt wissen, was sie vom Leben wollen, dann hat es sich doch gelohnt".