Der Erzbischof als staunender Beobachter
Fast sechs Jahrzehnte lang hat sich das Leben von Heiner Koch in einem geografisch überschaubaren Gebiet abgespielt – entlang des Rheins zwischen Düsseldorf und Bonn. 1954 in Düsseldorf geboren, ging Koch nach dem Abitur zum Theologiestudium nach Bonn, ehe er als Priester in die Dienste des Erzbistums Köln eintrat. Hier war er über 30 Jahre in verschiedenen Funktionen tätig – zuletzt von 2006 bis 2013 als Weihbischof. "Das Rheinland ist meine Heimat", so beschreibt Koch selbst es in seinem neuen Buch "Zu Gott ums Eck – Wie Kirche zu den Menschen kommt". Und weiter: "Die Atmosphäre entlang des Rheins zwischen Düsseldorf und Bonn habe ich aufgesogen, sie hat mich erfüllt und geprägt".
Es hätte wohl immer so weitergehen können – doch 2013 nahm Kochs Leben eine überraschende Wende: Er wurde Bischof von Dresden-Meißen und nur zwei Jahre später Erzbischof von Berlin. Nach knapp 60 Jahren im tief katholisch geprägten Rheinland fand sich Koch urplötzlich in der ostdeutschen Diaspora wieder. Dieser "Kulturschock" war für ihn wohl ein Antrieb dafür, jetzt – nach rund dreieinhalb Jahren als Hauptstadtbischof – ein Buch über seine Erfahrungen mit dem Glauben und den Menschen in Berlin vorzulegen.
"Ungläubige" mit einer Ahnung von Gott
In dem vor kurzem im Gütersloher Verlagshaus erschienenen Buch erzählt Koch in 15 Kapiteln von Begegnungen und Einsichten in seinem Alltag als Erzbischof einer Stadt, die mit Blick auf die weltanschaulichen Überzeugungen ihrer Bewohner immer wieder als "Hauptstadt des Atheismus" bezeichnet wird. Dass das so jedoch nicht stimmt, darauf weist der inzwischen 64-Jährige gleich zu Anfang hin. Zwar fände die Welt für die meisten Berliner ohne Gott statt. "Dennoch habe ich die gute und tiefe Erfahrung gemacht, wie sehr manche vermeintlich 'Ungläubige' doch eine Ahnung von jener liebenden und beschützenden Kraft haben, die wir Christen Gott nennen", schreibt Koch.
Erlebbar wird dies für den Leser, wenn er Koch auf seinem Streifzug durch Berlin begleitet und sich auf die Menschen einlässt, über die der Erzbischof in seinem Buch schreibt. So erzählt der Oberhirte etwa die berührende Geschichte von einem vom Glauben völlig unbeleckten Urgroßvater, der für seine Urenkelin mit viel Mühe und Zeit zehn verschiedene Taufkerzen gestaltet habe, bis ihm endlich "die richtige" für das kleine Mädchen gelungen sei – gestaltet mit tiefem Ausdruck: "Das Wasser eines Flusses, der Stern über dem Fluss und das Kreuz, an dessen Seiten sich zwei Hände öffneten, die gleichsam den Täufling aufnehmen wollten", so Koch. Während der Gestaltung der Kerzen habe sich der Mann immer stärker mit dem Sakrament der Taufe auseinandergesetzt und immer tiefer über das Leben und den Täufling nachgedacht.
Bei der Taufe selbst habe der alte Mann die Taufkerze an der Osterkerze entzündet. Dabei, so schreibt Koch, "habe ich in seine Augen gesehen und erahnt, wie sehr ihn das Licht der Osterkerze und der Taufkerze seiner Urenkelin berührte". Er habe in diesem Augenblick darum gebetet, dass im Entzünden der Taufkerze doch etwas von dem Licht der Osterkerze auf den Urgroßvater überspringe – "ein Funke, der nicht verglimmt, sondern der mehr entfacht".
Die christliche Botschaft für die Menschen wachhalten
So wie hier erzählt Koch auch von den anderen Begegnungen mit kirchenfernen Menschen in einem wertschätzenden Tonfall und mit den Augen eines interessierten und manchmal staunenden Beobachters. Sein Fazit: Es sei gut und wichtig, "dass wir auch bei den Menschen, die sich als ungläubig bezeichnen, sehr achtsam und aufmerksam bleiben". Christen sollten in aller Entschiedenheit ihren Glauben und die christliche Botschaft für diese Menschen wachhalten. Dass man das christliche Zeugnis dabei in Berlin auch mal "ums Eck" tragen muss, wie es im Titel des Buchs heißt, schreckt Koch nicht. Er sei fest davon überzeugt, dass Gott da sei, sagte er vor kurzem in einem Interview. "Vielleicht ist er für manche nicht so gradlinig und nicht so offensichtlich da. Manchmal muss man schon den Blick um die Ecke wagen und vielleicht um die Ecke gehen. Dann spürt man, dass er doch da ist."
Neben den Begegnungen mit den Menschen in seinem Erzbistum äußert sich Koch in dem Buch auch zu gesellschafts- und kirchenpolitischen Themen – und zeigt dabei mitunter klare Kante. So verurteilt er nachdrücklich, dass in der Abtreibungsdebatte viele "das Lebensrecht des ungeborenen Kindes nicht einmal erwähnen", aber auch die "respektlose Art und Weise, von und über Geflüchtete zu sprechen". Sein Appell: "Wer sich öffnet für Freunde, für Fremde, für Unverhoffte oder sogar ungebetene Gäste, ist Gastgeber für Jesus selbst."
Heiner Koch und die bischöfliche Badeente
Auch zum schwierigen Thema Kirchenfinanzen nimmt Koch Stellung. Im Kapitel "Arm-selig? Warum Reichtum auch bei Kirchens relativ ist" blickt er zunächst zurück auf den Skandal um den millionenteuren Neubau des Bischofshauses in Limburg. Dessen "legendenumwobene Badewanne" habe im Umgang mit Geld in der Kirche zu einer Zäsur geführt. "Auch wir in der Berliner Bistumsleitung haben verstanden, dass eine transparente und klare Offenlegung, was wir mit unserem Geld – das zu einem nicht geringen Teil aus Kirchensteuern stammt – machen, absolut geboten und alternativlos ist", so Koch, der humorvoll anfügt, dass der einzige Schmuck in seiner Badewanne eine kleine bischöfliche Badeente mit Mitra sei.
Teils mit konkreten Zahlen gibt der Erzbischof danach Auskunft darüber, wie und wofür die finanziellen Mittel des Erzbistums Berlin eingesetzt werden. Zugleich verweist er auf die "begrenzten Ressourcen" seiner Erzdiözese, die ihn immer wieder ärgerten, "weil ich oft Vorstellungen habe von dem, was wir alles sinnvollerweise noch machen könnten auch eigentlich müssten". So bekennt Koch etwa, dass er gerne mehr katholische Kindergärten und Schulen eröffnen würde, um die "Lebensbedeutsamkeit und Lebenskraft des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinschaft" für mehr Menschen erfahrbar zu machen. Doch dafür reichten die vorhandenen Mittel nicht aus.
„Wie kann schon die Architektur so sein, dass Menschen, die in dieser Stadt oder dieser Kirche fremd sind, Lust haben, hineinzugehen?“
Dennoch sei die Armut auch "ein Segen": Vielleicht werde "gerade uns als Kirche in dieser Begrenztheit deutlich, dass Macht und Mittel nicht das Entscheidende sind". In der heutigen Gesellschaft sei es viel wichtiger, Gott und seine frohe Botschaft bewegend, tröstend, ermutigend und vielleicht auch im guten Sinne verunsichernd aufstrahlen zu lassen.
Warnung vor "Endlosschleife des Bedenkenvortragens"
Mehrfach kommt Koch schließlich in dem Buch auch auf den bundesweit beachteten Umbau der Sankt-Hedwigs-Kathedrale zu sprechen und erläutert seine Motive für das umstrittene Projekt. Eine Hauptfrage sei für ihn, wie man das Gotteshaus durch die anstehende Sanierung einladender gestalten könne. "Wie kann schon die Architektur so sein, dass Menschen, die in dieser Stadt oder dieser Kirche fremd sind, Lust haben, hineinzugehen", fragt der Oberhirte. Zugleich zieht er aus diesem Thema – wie auch an anderen Stellen in dem Buch – Schlüsse ins Allgemeingültige. So warnt er vor einer "Endlosschleife des Bedenkenvortragens", die eine Weiterentwicklung der Kirche behindere.
Wer wissen möchte, wie der Erzbischof des deutschen Hauptstadtbistums auf seine Kirche und die Gesellschaft blickt, dem sei zu dem Buch geraten. Gewürzt mit konkreten Erlebnissen gibt das Werk einen Einblick in die Situation der Kirche in der ostdeutschen Diaspora, die auch traditionell katholisch geprägten Regionen im Westen bevorstehen dürfte. Zugleich verrät es, wie ein Rheinländer – denen ja ein besonders sonniges Gemüt nachgesagt wird – damit klarkommt.