Ein Tag mit Bischof Heiner Wilmer
Als Heiner Wilmer um 8.45 Uhr die Treppe in den Eingangsbereich des Bischofshauses hinunterkommt, ist er kurz irritiert. Die Stirn des Hildesheimer Bischofs legt sich in Falten und er bleibt auf einem Absatz stehen. Eine Frage schießt ihm durch den Kopf: Wer ist dieser junge Mann, der am Fuß der Treppe auf ihn wartet? Ein angehender Priesterseminarist vielleicht, der ein Gespräch mit ihm hat? Doch hätte er das vergessen? Oder ein Verwandter seiner Mitarbeiter, der nur kurz etwas vorbeibringt?
Im Wilmers Kalender steht für 9 Uhr ein Treffen mit den Mitarbeitern der Bildungsabteilung des Generalvikariats. Er hat seine Privatwohnung im ersten Stock des Bischofshauses bewusst etwas früher verlassen, um rechtzeitig im Verwaltungsgebäude zu sein. Er sei stets pünktlich und sehr diszipliniert, erzählen enge Mitarbeiter über ihn. Wilmer möchte nun eigentlich schnell die wenigen Meter ins Generalvikariat hinübergehen, für ein längeres Gespräch mit dem jungen Mann hätte er jetzt keine Zeit. Doch von einem Augenblick auf den anderen entspannt sich das Gesicht des Bischofs schlagartig: Er erinnert sich, wer der unbekannte Gast ist.
"Na, dann wollen wir mal"
Wilmer geht sichtlich erleichtert die letzten verbliebenen Treppenstufen herunter. Der 57-Jährige, dem aufgrund seiner hohen Statur und des jugendlichen Gesichts sein Alter kaum anzusehen ist, begrüßt den jungen Mann mit einem kräftigen Handschlag: "Sie sind sicher der Journalist, der mir heute nicht von der Seite weicht", sagt er und grinst. Auch dem nun hinzugetretenen Fotografen reicht er die Hand und heißt ihn mit einem freundlichen Wort willkommen. Mit einem beherzten "Na, dann wollen wir mal", lädt er dazu ein, ihn zum ersten Termin des Tages zu begleiten.
Die wenigen Meter hinüber zum Generalvikariat genügen dem Bischof, um seine Morgenroutine zu erläutern: Um 6 Uhr klingelt der Wecker und Wilmer macht sich in Ruhe fertig. Danach verbringt er eine Viertelstunde in Stille und feiert um 6.45 Uhr das kirchliche Morgengebet, die Laudes, mit anschließender Messe. Mit dabei sind vier Canisianer-Brüder, die in einem Flügel des Bischofshauses mit Wilmer "in einer Art WG leben", wie er selbst sagt. Während des Gebets und des anschließenden Frühstücks nicht allein zu sein, ist dem Ordensmann wichtig: "Ich bin kein Single", gibt er zu und kann sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen.
Dieser trockene Humor und die auffällig langgezogene Aussprache der Vokale verraten, dass Wilmer aus Norddeutschland stammt. Kurz vor seiner Weihe im September begleiteten verschiedene Medienvertreter den ernannten Bischofs in seine Heimat nach Schapen im Emsland. Auf dem Bauernhof seiner Eltern, den Wilmer als ältester Sohn eigentlich übernehmen sollte und der nun von seinem Bruder Theo geführt wird, wagte er sich vor laufenden Kameras sogar an das Steuer eines Treckers und zeigte, dass er das in seiner Heimat bis heute gesprochene Plattdeutsch nicht verlernt hat. Wer Wilmer trifft, merkt jedoch schnell, dass diese Bodenständigkeit nicht aufgesetzt ist, sondern zu seinem Wesen gehört.
Offizielle Begegnung nach einer "kurzen Nacht"
Beim Betreten des Generalvikariats begrüßt er die Mitarbeiterin an der Pforte mit Handschlag: "Frau Buß, Sie haben die Sonne mitgebracht", bedankt er sich bei der 43-Jährigen charmant für das gute Wetter. Nach einer kurzen Vorbesprechung mit dem Leiter der Bildungsabteilung des Bistums beginnt um 9.20 Uhr das Treffen mit den Mitarbeitern. Es ist die erste offizielle Begegnung Wilmers mit der Abteilung und mit einem gemeinsamen Frühstück verbunden. Käse- und Salamischeiben sowie ein Pfund Mett stehen neben zwei Dutzend Brötchen bereit, doch der Bischof freut sich besonders über den Kaffee: "Ich hatte eine kurze Nacht", gibt er zu. Gestern sei er erst nach Mitternacht von einem Treffen mit den Spitzen der Evangelischen Landeskirche Hannovers heimgekommen.
Die Ökumene ist ihm besonders wichtig, denn die "Zeit ist vorbei, in der wir nur auf die Unterschiede zwischen den Konfessionen hinweisen sollten", glaubt Wilmer, in dessen Bistum der Anteil von Katholiken in einer mehrheitlich protestantischen Bevölkerung bei knapp über zehn Prozent liegt. Doch bei der Verständigung mit den anderen Christen ist ihm die "Demut wichtig, sich nicht aufzwingen zu wollen". Natürlich gebe es auch Unterschiede, doch die Tradition der Kirche beginne nicht erst mit dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert, sondern "wenn man es ernst nimmt, bereits vor 3.000 Jahren mit dem Judentum." Das Verbindende sei größer, ist er sich sicher.
Wilmer ist seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr viel unterwegs: Er hat sich vorgenommen, alle Dekanate seines Bistums, die Abteilungen des Generalvikariats und andere Einrichtungen inner- und außerhalb der Kirche während seines ersten Jahres als Bischof kennenzulernen. Aber im Bistum Hildesheim, das mit 30.000 Quadratkilometern die flächenmäßig drittgrößte Diözese Deutschlands ist und von der Nordsee bis an den Harz reicht, sind die Wege weit. In etwa der Hälfte der Dekanate steht ein Besuch noch aus. Bei den Treffen ist für Wilmer besonders die persönliche Begegnung mit den Gläubigen wichtig: Es gibt die Möglichkeit mit ihm ins Gespräch zu kommen und Fragen zur Kirche und zum Glauben zu stellen.
Beim Treffen mit der Bildungsabteilung soll es an diesem Morgen um die Zukunft der kirchlichen Schulen und des Religionsunterrichts im Bistum Hildesheim gehen. Gemeinsam mit den etwa 15 Lehrern, Theologen und Religionspädagogen des Generalvikariats denkt Wilmer über Perspektiven und Strategien nach, wie wir "unsere Schulen gut aufstellen können", so der Bischof. Bildung ist Wilmer ein Herzensanliegen, denn er hat nach seinem Ordenseintritt bei den Herz-Jesu-Priestern kurz nach dem Abitur mit 19 Jahren auf Lehramt studiert. Außerdem war er in verschiedenen Schulen in Deutschland und den USA als Lehrer tätig und hat neun Jahre das ordenseigene Gymnasium im emsländischen Handrup geleitet. "Die Schule war eine gute Schule für mich", glaubt Wilmer. Denn im Gespräch mit den Schülern und Eltern habe er erfahren, was die Menschen außerhalb der Kirche bewege, und gelernt, wie man den Glauben zeitgemäß vermitteln könne. "Die längste Zeit meines priesterlichen Lebens bin ich nicht binnenkirchlich unterwegs gewesen", sagt er – und es klingt fast so, als ob etwas Stolz auf die Zeit in der Schule in seiner Stimme mitschwingt.
Inzwischen ist es 11.55 Uhr und Wilmer geht schnellen Schrittes zurück Richtung Bischofshaus. Dort wartet bereits Wolfgang-Uwe Friedrich, der Präsident der Universität Hildesheim, auf ihn. Der Politikwissenschaftler leitet die Hochschule seit 2002 und ist für ein erstes Treffen mit dem neuen Hildesheimer Bischof zum Mittagessen gekommen. Friedrich hat ein Begrüßungsgeschenk dabei, das die über 1.200-jährige Geschichte des Bistums Hildesheim widerspiegelt: ein Buch über die Marienburg, eine mittelalterliche Wasserburg im Umland Hildesheims. Der Uni-Präsident legt Wilmer einen Besuch sehr ans Herz, denn die Burg wurde von einem seiner Vorgänger im 14. Jahrhundert erbaut und dient der Universität heute als "Kulturcampus". "Sie verbindet uns beide", sagt er zum Hildesheimer Bischof.
Bischof in schwieriger Zeit
Nach einer kurzen Mittagspause und etwas organisatorischer Arbeit am Schreibtisch geht es für Wilmer um 15 Uhr weiter. Er wartet am Fuß der Treppe zu seiner Wohnung im Bischofshaus auf seine Begleiter. Neben ihm hängt ein gemaltes Porträt von Daniel Wilhelm Sommerwerck, einem seiner Vorgänger. Sommerwerck, auf dem Gemälde im violetten Bischofsornat eindrucksvoll verewigt, war 34 Jahre lang Bischof von Hildesheim – während des Preußischen Kulturkampfs, einer schwierigen Zeit für die katholische Kirche. Wilmer ist erst wenige Monate im Amt und wirkt in seinem schlichten Anzug mit Priesterkragen wie ein Gegenbild zu Sommerwerck.
Doch wie sein Amtsvorgänger ist er Bischof in einer schwieriger Zeit für die Kirche, denn am auch Bistum Hildesheim ist der Missbrauchsskandal nicht vorübergegangen. Für Wilmer ist das Thema Missbrauch der Punkt, an dem er sich messen lassen will. Er hat erkannt, dass die Kirche nicht nur Hilfe unterlassen und Fehler gemacht, sondern vielmehr Verbrechen begangen hat. Im Dezember sagte er den "Kölner Stadt-Anzeiger", dass "Missbrauch von Macht in der DNA der Kirche" stecke. Diese deutlichen Worte brachte ihm neben Lob auch viel Kritik ein – auch von anderen Bischöfen.
Bevor es zum nächsten Termin geht, bleibt noch etwas Zeit und der Bischof macht einen Abstecher in den Mariendom, der direkt vor dem Bischofshaus liegt. In der schlichten romanischen Kathedrale, die zum Bistumsjubiläum 2015 grundlegend renoviert wurde, zeigt er seinen Lieblingsplatz: Es ist die Seitenkapelle mit der Pieta, die den Kunstliebhaber Wilmer besonders wegen der eindrücklichen Darstellung des Leidens fasziniert. "Menschen mit ihrem Leid und ihrer Freude zu verstehen", sei für ihn zentral, sagt der Bischof nach einem kurzen Gebet in Stille. Das könne man nur in der Tiefe und sei deswegen schwierig, gibt er nachdenklich zu. Und fügt hinzu: "Nur die Oberflächlichkeit ist leicht."
Unterwegs in kultureller Mission
Durch die Fußgängerzone von Hildesheim eilt Wilmer nun zu seinem Treffen mit dem Oberbürgermeister der Stadt. Um 15.30 Uhr betritt er ein Ladenlokal an einer der Haupteinkaufsstraßen der etwas mehr als 100.000 Einwohner zählenden Stadt. Im Flair eines Startups eingerichtet befindet sich hier das Projektbüro zur Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Oberbürgermeister Ingo Meyer begrüßt Wilmer herzlich. Er ist Absolvent eines bischöflichen Gymnasiums in Hildesheim und Vorsitzender des Dombau-Vereins. Neben ihm steht Thomas Harling – eigentlich Pastoralreferent, doch aktuell Leiter des Projektbüros "Hi2025". Man versteht sich.
Bischof und Oberbürgermeister setzen sich für ein gemeinsames Foto in einen Strandkorb im Büro. "Super, hier kann ich richtig entspannen", freut sich Wilmer. An einer einfachen Spanplatte, die aufgebockt als Tisch dient, und mit dem Interieur des Projektbüros auch in Berlin-Kreuzberg zu finden sein könnte, wird über die Bewerbung als Kulturhauptstadt beraten. Wilmer ist, wie auch bei den anderen Terminen zuvor, stets bei der Sache und sehr interessiert. Er freut sich über die Bewerbung und lobt seine neue Heimat: "Die Lage von Hildesheim ist super. Man ist schnell überall in ganz Deutschland". Das Bistum sei ein wichtiger Träger der Kultur in der Stadt und werde die Bewerbung kräftig unterstützen, verspricht er.
Um 17 Uhr steht für Wilmer das letzte Treffen des Tages an: ein Besuch von Abt Aloysius Althaus. Als Wilmer fünf Minuten vor dem Termin im Bischofshaus ankommt, wartet der Abt von Kloster Meschede schon im Eingangsbereich. Beide kennen sich aus der Konferenz der Ordensoberen, der Wilmer von 2007 bis 2015 angehörte, als er Leiter der Deutschen Provinz der Herz-Jesu-Priester war. "Einige unserer Mitbrüder leben in Hannover in einem Projekt, der Cella St. Benedikt", erklärt Abt Aloysius seinen ersten Besuch beim neuen Bischof von Hildesheim – denn die Benediktinerabtei liegt auf dem Gebiet des Erzbistums Paderborn.
"Nach dem Gespräch beten wir die Vesper und dann wärme ich zum Abendessen die Suppe von heute Mittag auf", beschreibt Wilmer mit großer Selbstverständlichkeit und sehr nüchtern den Plan für den weiteren Abend. "Wenn Abt Aloysius gegangen ist, werde ich meinen Anzug ausziehen, in meine Jeans schlüpfen und eine Stunde drauflos gehen." So bekomme er den Kopf am besten frei, verrät der Hildesheimer Bischof. Denn am kommenden Tag stehen für ihn wieder viele Termine und Gespräche an.