Vor 50 Jahren endete die Bischofsversammlung in Medellín

"Eine ekklesiologische Revolution"

Veröffentlicht am 06.09.2018 um 16:30 Uhr – Lesedauer: 
"Eine ekklesiologische Revolution"
Bild: © KNA
Kirche

Bonn ‐ Nicht nur für die Kirche in Lateinamerika war die Bischofsversammlung in Medellín 1968 ein Meilenstein. Die dort beschriebene "Option für die Armen" prägt Theologie und Kirche bis heute - auch den Papst.

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"Mit Medellín trat Gott in die lateinamerikanische Geschichte." So bewertet der Befreiungstheologe Jon Sobrino im Rückblick die Zweite Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrats (CELAM) im Jahr 1968. Das Treffen im kolumbianischen Medellín stellt für ihn nicht weniger als "eine ekklesiologische Revolution" dar. Mit dieser Einschätzung ist er nicht alleine. Denn die heute vor 50 Jahren zu Ende gegangene Versammlung prägt die Kirche des Kontinents und der ganzen Welt bis in die Gegenwart.

Das zweiwöchige Treffen in Medellín hatte ein konkretes Ziel: die Beschlüsse des kurz zuvor stattgefundenen Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) für die Kirche Lateinamerikas umzusetzen. Dabei sollte der Schwerpunkt besonders auf die aktuelle politische und soziale Lage des Kontinents gelegt werden. Welche Bedeutung der Bischofsversammlung schon damals zugesprochen wurde, lässt sich an der persönlichen Eröffnung durch Papst Paul VI. ablesen. Mit seiner Reise nach Medellín setzte erstmals ein Pontifex seinen Fuß auf lateinamerikanischen Boden. In seinem Vortrag rief Paul VI. die 249 Teilnehmer dazu auf, die aktuellen gesellschaftlichen Probleme in den Blick zu nehmen. Dabei lobte er die zu diesem Thema schon vorliegenden Papiere verschiedener nationaler Bischofskonferenzen des Kontinents. Zudem verwies er auf seine Enzyklika "Populorum progressio" aus dem Jahr 1967. In diesem Schreiben kritisierte er ungerechte soziale und wirtschaftliche Zustände und forderte Einsatz für den Frieden auf Erden.

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Papst Paul VI. besuchte 1968 erstmals ein lateinamerikanisches Land. 1965 hatte er bereits vor den Vereinten Nationen in New York für Solidarität und Frieden geworben.

Neben dem Papst gaben auch die historischen Umstände dem Treffen in Medellín ihr Vorzeichen: Kurz vor dem Ende des II. Vaticanums fanden sich im November 1965 40 Konzilsbischöfe in den Domitilla-Katakomben in Rom zusammen. Sie hatten während des Konzils die Bedeutung der Armen für die Kirche betont. In einem Pakt versprachen sie nun, nach der Rückkehr in ihre Heimatländer weiter für die Benachteiligten zu kämpfen. Auch im persönlichen Alltag setzten sie Zeichen und verpflichteten sich zu einem einfachen Lebensstil. Viele von ihnen prägten später die Versammlung in Medellín.

Gesellschaftlicher Standortwechsel von historischer Bedeutung

Auch in Theologie und Pastoral war es zu Aufbrüchen hin zu einer den Menschen zugewandten Kirche gekommen. Die ersten Gedanken zu einer Theologie der Befreiung gab es bereits zu dieser Zeit. Angeregt von der Kubanischen Revolution 1958/59 entwickelte sich eine größere Sensibilität für ungerechte Gesellschaftsstrukturen und der Wille, sie zu verändern. Auch die Opposition zu Militärregimen, die ab den 1950er Jahren in Lateinamerika um sich griffen, trug dazu bei. Der 1966 erschossene kolumbianische Priester und Guerilla-Kämpfer Camilo Torres steht stellvertretend für in diesem Sinne wirkende Priester und Gläubige.

So ist es nicht verwunderlich, dass sozial engagierte Bischöfe, wie der brasilianische Erzbischof Helder Camara, prägende Gestalten der Bischofsversammlung in Medellín waren. Sie sorgten dafür, dass die Kirche Lateinamerikas mit ihren 16 Abschlussdokumenten einen gesellschaftlichen Standortwechsel von historischer Bedeutung vollzog: weg von einer bis dahin verbreiteten Nähe zu den herrschenden Eliten, hin zu einer Kirche der Armen und Bedürftigen. Die Inspiration zu diesem Paradigmenwechsel stammt aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil, war dort aber nach Meinung vieler Bischöfe nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht worden. Lateinamerika half somit der Weltkirche bei der Interpretation des Konzils auf die Sprünge. Inhaltlich ist Medellín die Geburtsstunde des befreiungstheologischen Grundsatzes der "Option für die Armen". Selbst wenn dieser konkrete Ausdruck erst 1979 bei der Dritten Generalversammlung des CELAM im mexikanischen Puebla gefallen ist: inhaltlich wurde er in Medellín erstmals in einem lehramtlichen Schreiben konkret umrissen.

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Papst Franziskus lobte bei seinem Besuch in Medellín im September 2017 die Beschlüsse der CELAM-Bischofsversammlung.

Die 16 Dokumente gliedern sich auf in die drei Themenbereiche Menschliche Entwicklung, Evangelisierung sowie die Kirche und ihre Strukturen. Sie berücksichtigen die soziale Realität Lateinamerikas und sind nach dem Dreisatz "Sehen – Urteilen – Handeln" aufgebaut. Namhafte Befreiungstheologen wie Gustavo Gutierrez schrieben an ihnen mit. Die Kirche verdankt den lateinamerikanischen Bischöfen klare Worte: "Die Armut so vieler Brüder und Schwestern schreit nach Gerechtigkeit, Solidarität, Zeugnis, Engagement", heißt es im Papier "Armut der Kirche". Ein Auftrag, dem sich die Kirche Dank Medellín noch heute verpflichtet weiß.

Wohl deshalb ließ es sich Papst Franziskus nicht nehmen, während seiner Kolumbien-Reise im vergangenen Jahr auch Medellín zu besuchen. Dort lobte er die Beschlüsse der Bischofsversammlung, die "in diesem Land geboren wurden". Ausdrücklich bekräftigte er den befreiungstheologischen Dreisatz und bezog ihn auf die heutige Kirche. Sie brauche Gläubige, "die verstehen, ohne geerbte Kurzsichtigkeit zu sehen; die die Realität mit den Augen und dem Herzen Jesu prüfen und von dort ausgehend urteilen; und die etwas wagen, handeln, sich verpflichten". Nach Ansicht von Franziskus ist die Botschaft von Medellín auch nach 50 Jahren für die Kirche noch aktuell.

Von Roland Müller