Friedrich Schleiermacher – der Theologe mit dem Philosophenblick
1517 sorgte die Reformation für ein Beben in der Kirche. Martin Luther stellte mit seinen Thesen die kirchliche Welt auf den Kopf. So erklärte er, dass jeder Christ selbst die Fähigkeit habe, die Schrift auszulegen und zu verstehen - ohne Vermittlung durch kirchliches Personal. Am 21. November 1768 wurde in Breslau ein Mann geboren, der das Erbe Martin Luthers in die Moderne übertragen sollte: Friedrich Schleiermacher. Er setzte für die Hermeneutik, also das Verstehen und Auslegen von Texten, im 19. Jahrhundert bedeutende Akzente.
Schleiermacher entstammte einer alten Pastorenfamilie. Sein Vater war Militärgeistlicher und reiste viel. Geprägt hat den Jungen neben seinem Elternhaus die Brüdergemeine im sächsischen Herrnhut. Dort lernte er wegweisende Grundsätze kennen, etwa die Trennung von Staat und Kirche.
Kein Glaube an den strafenden Gott
Zugleich wurden Zweifel in ihm wach. Er gestand seinem Vater, nicht mehr an bestimmte christliche Dogmen glauben zu können, wie der verstorbene Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Kantzenbach in einer Schleiermacher-Biografie schreibt: So leugnete er die Vorstellung eines strafenden Gottes. Denn der Schöpfer habe eine unvollkommene Welt ins Leben gerufen und werde unmöglich "ewig" strafen, weil seine Geschöpfe "nicht vollkommen" werden.
In Schleiermachers Kindheit und Jugend lag der Freiheitsgeist der Französischen Revolution in der Luft. Auf deutschen Bühnen protestierte der junge Schiller mit "Die Räuber" gegen das herrschende Feudalsystem. Und auch Schleiermacher wollte aufbegehren, er litt unter der Enge der pietistischen Erziehung. Deshalb ging er zum Theologiestudium nach Halle, die dortige Uni bot ihm mehr Freiheiten als das Seminar der Herrnhuter. Weit mehr als die Theologie interessierten ihn dort aber alte Sprachen und die Philosophie. Dennoch bestand er die theologische Prüfung, mit "hinlänglicher Kenntnis" in Dogmatik. Und so trat Schleiermacher seine erste Stelle als Hilfsgeistlicher an - und fand Geschmack an seiner Berufung.
Wohn- und Arbeitsgemeinschaft mit Schlegel
Besonders beliebt waren Schleiermachers fulminante Kanzelreden, bei kirchenfernen Intellektuellen bewundert wegen ihrer Offenheit für aktuelle Zeitfragen. Im September 1796 siedelte er nach Berlin um: als Prediger an der Charité. Vorübergehend hatte Schleiermacher einen Mitbewohner, den jungen Philosophen Friedrich Schlegel. Bald bildeten der "Schleier", wie der Charité-Prediger im trauten Kreis genannt wurde, und Schlegel eine fruchtbare Wohn- und Arbeitsgemeinschaft. Dieser regte seinen Mitbewohner zu einem epochalen Werk an: "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799). Das Buch begründete seinen Ruf als Kirchenvater des 19. Jahrhunderts.
Zu ihren "Verächtern" zählte der Prediger die Aufklärer, aber auch die protestantische Orthodoxie. Der liberale Theologe Schleiermacher, der die Errungenschaften der Revolution schätzte, bezog eine vermittelnde Position: Er zog gegen die seelenlose Religion der Vernunft und Moral zu Feld und wandte sich gegen orthodoxe Verteidiger von Dogmen. Schleiermacher wollte nicht die Kirche als Institution retten. Eine Droh- statt Frohbotschaft war ihm zuwider. Stattdessen warb er, wie Luther, für einen unmittelbaren, vom intuitiven Erfassen geprägten Glauben. Er betonte das individuell-mystische Erlebnis: "Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl." Religion bedeutete dem Romantiker subjektive "Erfahrung, ein heiliger Instinkt, die zarteste Blume der Phantasie" im existenzialen Gefühl der Abhängigkeit.
Schleiermacher, seit 1804 Professor für Theologie und Philosophie in Halle, fühlte sich der Bibelkritik verpflichtet. Er wies nach, dass der erste Paulusbrief an Timotheus nicht von dem Apostel selbst, wohl aber in seinem Umkreis verfasst wurde. Mit seiner Textkritik war der protestantische Gelehrte, der später die Bildungspolitik Wilhelm von Humboldts unterstützte und im Februar 1834 unter großer Anteilnahme der Berliner Bevölkerung beigesetzt wurde, der katholischen Kirche weit voraus: Sie öffnete erst unter Papst Pius XII. 1943 die Heilige Schrift einer kritischen Sichtung.