Moraltheologe Goertz kritisiert Äußerungen Müllers

Kardinal Müller und die Frage gottgewollter Homosexualität

Veröffentlicht am 19.02.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Mainz ‐ Kardinal Gerhard Ludwig Müller sagte jüngst, "dass kein Mensch gottgewollt als Homosexueller geboren wird". Bei dem Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz wirft diese Äußerung viele Fragen auf, wie er in seinem Gastbeitrag für katholisch.de schreibt.

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Auf die Frage, ob Papst Franziskus zu viel rede, antwortet Kardinal Gerhard Ludwig Müller im Gespräch mit dem Spiegel-Redakteur Walter Mayr, dass Zurückhaltung "in weltlichen Fragen" wünschenswert wäre. Ein päpstliches Wort zu diesen oder jenen Einzelaspekten weltlicher Dinge sei so viel wert wie das Urteil eines jeden Bürgers. Dem ist wohl zuzustimmen, denn über welche bessere Einsicht in weltliche Sachverhalte sollte ein geistlicher Würdenträger verfügen? Gefragt seien die kirchlichen Autoritäten hingegen in moralischen Angelegenheiten.

Angesprochen auf seine wiederholte Behauptung, zwischen sexuellem Missbrauch und Homosexualität gebe es einen Zusammenhang, äußert der Kardinal unter anderem als seine Meinung, "dass kein Mensch gottgewollt als Homosexueller geboren wird, wir werden geboren als Mann oder Frau."

In welche Rubrik gehört diese Meinung Gerhard Ludwig Müllers? Handelt es sich um einen Bereich, für den Müller selbst dem Klerus Zurückhaltung ans Herz legt? Oder geht es hier um eine Frage der Moral, für die kirchliche Autorität beansprucht wird?

Homosexualität als Unglück?

Zunächst fällt es nicht ganz leicht, den Sinn der Aussage über die nicht gottgewollte Homosexualität zu bestimmen, die mit dem Satz "begründet" wird, dass wir Menschen als Mann oder Frau zur Welt kommen. Da Homosexuelle ja auch entweder als Mann oder Frau geboren werden, kann nur gemeint sein, dass es zur gottgewollten Männlichkeit des Mannes und zur gottgewollten Weiblichkeit der Frau gehört, heterosexuell orientiert zu sein. Woher weiß der Kardinal das? Noch einmal: Es geht nicht um die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, die übrigens, wie wir heute wissen, im Falle der Intersexualität ihre strikte Eindeutigkeit verloren hat. Es geht Müller um die Homosexualität und um seine Meinung, dass niemand als Homosexueller geboren wird. Darauf meine Frage: Woher weiß Müller das? Spricht er hier als Bürger oder als kirchlicher Würdenträger?

Handelt es sich bei der Meinung über die Homosexualität um eine weltliche Angelegenheit, dann wäre wohl Zurückhaltung wünschenswert. Und es ist eine weltliche Angelegenheit, denn erst die ganz profane Missbilligung der Homosexualität lässt sie als etwas erscheinen, das ursprünglich von Gott nicht gewollt sein kann. Auf die Idee, dass Gott nicht wolle, dass ein Mensch "von Geburt an" homosexuell sei, kann nur kommen, wer Homosexualität als Unglück oder Übel begreift. Sonst landet man im theologischen Positivismus. Die Homosexualität sei zu missbilligen, weil Gott sie nicht wolle. Warum aber will Gott sie nicht? Darauf hätte ein Positivist keine Antwort mehr – außer der: weil er es eben nicht wolle. Dass damit jede vernünftige Argumentation in ethischen Fragen abgewürgt wird, liegt auf der Hand.

Stephan Goertz im Porträt
Bild: ©Maja Goertz

Stephan Goertz ist Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz.

Für Kardinal Müller will Gott also keine zur Natur eines Menschen gehörende Homosexualität. Jetzt bleiben zwei Möglichkeiten: Dass Menschen dennoch homosexuell begehren und lieben, beruht auf menschlicher Schuld und Schwäche. Damit wären wir bei der Erbsünde oder der Verführbarkeit des Menschen. Oder aber Gott will zwar keine Homosexualität, er lässt sie aber gleichsam zu; ähnlich wie Krankheiten oder Behinderungen, von denen wir sicher auch sagen würden, dass Gott sie nicht will, es sie aber dennoch in seiner Schöpfung gibt – ohne dass dafür irgendjemand die moralische Verantwortung trägt.

Oder weiß Kardinal Müller, dass Gott nicht will, dass jemand als Homosexueller geboren wird, aus anderen Erkenntnisquellen – vielleicht aus der Heiligen Schrift? Schließlich spielt er mit dem Satz "als Mann und Frau geboren" auf den Schöpfungsbericht an. Sollte das die Meinung des Kardinals begründen, dann wüsste man gerne, wie die biblischen Texte etwas zu einem Phänomen sagen konnten, das erst im 19. Jahrhundert humanwissenschaftlich konzeptualisiert worden ist. Dass in der Bibel negativ über gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken gedacht wird, bestreitet niemand. Über homosexuelle Liebesbeziehungen schweigt die Bibel. Dass es sie gibt, kann heute gewusst werden. In ethischer Hinsicht, also in dem Bereich, wo die kirchliche Autorität mitreden will, kommt es entscheidend auf die moralische Wirklichkeit einer Handlung an. Daher unterscheidet die Bibel und die kirchliche Tradition etwa von jeher zwischen Selbstverteidigung, Totschlag und Mord – oder zwischen Mundraub und Diebstahl.

Auch geistliche Autorität muss Argumente liefern

Wie man den Satz über die ursprünglich nicht von Gott gewollte Homosexualität auch dreht und wendet, in keiner Hinsicht kann er theologisch überzeugen. Die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse und menschlichen Erfahrungen über die Natur der homosexuellen Orientierung stehen konträr zur Meinung Müllers. Für diese weltliche Frage ist die Theologie nicht zuständig. Soll der Satz jedoch eine theologische Aussage bilden, dann wäre interessant zu erfahren, wie sich der Kardinal die Genese von Homosexualität gattungs- und individualgeschichtlich vorstellt. Leiden Homosexuelle an den Folgen der Erbsünde? Ist sie eine Strafe Gottes? Sind Homosexuelle psychisch labil oder krank?

Am Ende geht es um den Anspruch geistlicher Autorität, über einen besonderen Zugang zum sittlich gebietenden Willen Gottes zu verfügen, also in Fragen der Moral mehr zu wissen als alle anderen. Dieser Anspruch entbindet nicht von der Aufgabe, für die eigenen Überzeugungen plausible Argumente zu liefern. Mit der Meinung Kardinal Müllers konfrontiert, werden viele Gläubige froh sein, sich vom Ungeist des Untertanen-Daseins emanzipiert zu haben.

Von Stephan Goertz