"Kapieren nicht, dass wir eine Minderheit sind"

Kurienkardinal Ravasi: Viele Kleriker blenden die Realität aus

Veröffentlicht am 29.11.2018 um 10:52 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Volle Kirchen am Sonntagmorgen? Dieses Bild gehöre vielerorts der Vergangenheit an – doch etliche Priester wollten das nicht wahrhaben, kritisiert Kardinal Gianfranco Ravasi. Statt Realitätsverweigerung schlägt er Lösungen für die Kirchenkrise vor.

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Der italienische Kurienkardinal Gianfranco Ravasi wirft vielen Klerikern eine Ausblendung der Realitäten vor. Viele wollten immer noch nicht wahrhaben, dass im Westen gläubige Menschen eine Minderheit seien, sagte der Präsident des Päpstlichen Kulturrates im Interview der Zeitung "Corriere della Sera" (Donnerstag). "Die leben immer noch so, als lebten wir in einem Dorf, in dem sonntagmorgens, wenn die Glocken läuten, die Leute zur Kirche rennen." Ravasi äußerte sich vor Beginn einer Konferenz zur Umwidmung von Kirchen, die bis Freitag in der Päpstlichen Universität Gregoriana stattfindet.

In den meisten westlichen Ländern gebe es keinen wirklichen Atheismus. "Vielmehr herrscht eine Form religiöser Apathie: Ob es Gott gibt oder nicht, ist egal", so der Kardinal. Ein solches Bewusstsein führe aber dazu, dass jeder sich sein eigenes moralisches System aufbaue, wie es für ihn passt.

Selbst wenn sich in Umfragen jemand als Christ bezeichne, besage das mitunter wenig, so Ravasi. Vor einiger Zeit habe er auf Twitter geschrieben: "Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen" und massenhaft heftigste Reaktionen erhalten. "Die allermeisten haben nicht mal kapiert, dass ich das Evangelium zitiert habe."

Nicht den protestantischen Weg gehen

Als mögliche Reaktionen zeigt Ravasi zwei Alternativen auf. Die eine sei das Verhalten vieler protestantischer Kirchen: dem Trend nachzugeben, sich zurückzuziehen und auf ein Minimum religiöser und moralischer Aussagen zu beschränken. Das halte er aber für falsch. "Die Präsenz von Gläubigen, auch wenn es wenige sind, muss ein Schrei sein, kein Flüstern", so Ravasi. Besser sei es, auf diese Weise den Kern der christlichen Botschaft zu bewahren: "die Zehn Gebote, die Bergpredigt, die Wahrheit, Leben und Tod".

Dies müsse aber so verkündet werden, dass man es heute versteht, in entsprechender Sprache und Medien. Papst Franziskus etwa mache das vor, wenn er in einfachen kurzen Sätzen spricht, indem er wie Jesus sprechende Bilder verwendet, in virtueller Welt Greifbares schildert.

Die zweitägige internationale Tagung "Wohnt Gott hier nicht mehr?" befasst sich mit Möglichkeiten der Umwidmung kirchlicher Gebäude. Allein in Italien sind rund 65.000 Kirchen im Besitz von Pfarreien und Bistümern. Organisiert wird die Konferenz von der Gregoriana, dem Päpstlichen Kulturrat und der Italienischen Bischofskonferenz.

Gianfranco Ravasi (75) wurde 2007 von Benedikt XVI. zum Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Kultur ernannt. Außerdem wurde er Präsident der Päpstlichen Kommission für die Kulturgüter der Kirche und Präsident der Päpstlichen Kommission für Christliche Archäologie. Seit 2010 gehört er dem Kardinalskollegium an. (tmg/KNA)