Lammert: Euthanasie-Morde waren Muster für Holocaust
Am diesjährigen Holocaust-Gedenktag hat der Bundestag erstmals besonders der Opfer der NS-Euthanasie-Morde gedacht. Bundestagspräsident Norbert Lammert beklagte am Freitag, dass die Aufarbeitung dieser Verbrechen lange nicht stattgefunden habe, weder in Politik noch Gesellschaft. Viele der Täter, Ärzte und Wissenschaftler, seien Universitätsprofessoren geworden, so Lammert. Die Zahl der NS-Euthanasie-Opfer wird auf 300.000 geschätzt.
"Das Gedenken überhaupt möglich wurde, verdanken wir dem unermüdlichen Engagement einzelner", betonte der Bundestagspräsident. Erst 2007 habe der Bundestag das NS-Zwangssterilisation-Gesetz geächtet und erst 2014 sei der "Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde" in Berlin eröffnet worden. "In dem wir die Leidensgeschichten an uns heranlassen, geben wir den Opfern ihre Würde zurück", sagte Lammert.
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Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Historiker Harald Biermann spricht über die Rolle die Kirche bei der Aufarbeitung. (Interview von Mai 2015)Die NS-Euthanasie-Morde seien dabei wie ein Probelauf für die "vorsätzliche und systematische Tötung" von Millionen Verächteter gewesen, so Lammert. Kaum jemand habe gegen die Euthanasie-Morde aufbegehrt. Der Bundestagspräsident erinnerte an den Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen und den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm. Es seien einzelne Vertreter der christlichen Kirchen gewesen, die den Mut hatten, "sich dem inhumanen Zeitgeist zu widersetzen", so Lammert. "Widerstand war gefährlich, aber er war nicht unmöglich."
Der Mülheimer Philosoph Hartmut Traub, dessen Onkel Benjamin 1941 in der Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar ermordet wurde, bekräftigte: "Erinnern ist mehr als bloßes zur Kenntnis nehmen". Es gehe jeden Einzelnen "innerlich an, es betrifft uns". Die Berliner Publizistin Sigrid Falkenstein berichtete vom Schicksal ihrer Tante Anna Lehnkering, die laut Nazis an "angeborenem Schwachsinn" litt und ermordet wurde. Es sei an der Zeit die Namen der Opfer zu nennen, um sie ins familiäre und kollektive Gedächtnis zurückzuholen, bekräftigte Falkenstein.
Der Schauspieler Sebastian Urbanski, der 1978 mit dem Down-Syndrom zur Welt kam, las aus einem Brief von Ernst Putzki an seine Mutter. Putzki wurde 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet und beschreibt in dem Brief, wie er und seine Mitgefangenen auf den Hungertod warten. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hatte Urbanski zuvor eine anhaltende Ausgrenzung von Menschen mit Down-Syndrom beklagt.
Der Hornist Felix Klieser und der Pianist Moritz Ernst spielten in der Gedenkstunde Kompositionen von Norbert von Hannenheim, dessen Werk von den Nazis als "entartet" bezeichnet wurde. Klieser kam ohne Arme zur Welt und spielt sein Instrument mit dem linken Fuß. "Ich glaube, die große Gefahr besteht darin, dass wir Dinge wahrnehmen, aber die Vorstellungskraft nicht besitzen, wie weit sich Strömungen entwickeln können", sagte der 25-Jährige.
Jeweils am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Das Datum erinnert an die Befreiung des größten NS-Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945. (KNA)