"LGBT-Katholiken fühlen sich unglaublich verletzt"
Frage: Pater Martin, Ihr Buch wurde gelobt von mehreren Kardinälen, darunter dem Leiter des neuen Dikasteriums für Laien, Familie und Leben, Kevin Farrell. Hoffen Sie, dass auch Ihr Mitbruder, Papst Franziskus, sich bei Ihnen melden wird?
James Martin: Ich habe keine Ahnung, ob der Heilige Vater das Buch lesen wird; oder ob er überhaupt davon weiß. Aber selbst wenn er es lesen sollte, bezweifle ich, dass er Zeit für ein Feedback finden wird. Er ist schließlich ein beschäftigter Mann! Was ich aber schon hoffe, ist dass die Ideen in meinem Buch eine Debatte in der Kirche anregen. Im Wesentlichen hat ja Papst Franziskus selbst diese Diskussion losgetreten mit seiner berühmten Antwort auf die Frage nach Homosexuellen: "Wer bin ich, sie zu verurteilen?"
Stichwort: LGBT
Die aus dem Englischen stammende Abkürzung LGBT steht für "Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender", zu deutsch Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Sie wird heute auch in der deutschen Sprache als nicht-diskriminierende Gruppenbeschreibung verwendet. Umfasst werden dabei alle Personen nicht-heterosexueller Veranlagung oder abweichender Geschlechtsidentität. (kim)Frage: Ihr Buch ist wahrlich keine Wohlfühl-Lektüre, sondern sehr herausfordernd. Sie schlagen darin ein Konzept vor, wonach die Kirche und LGBT-Katholiken jeweils Schritte aufeinander zu gehen sollen. Für welche Seite, denken Sie, ist das schwerer?
Martin: Nach meinem Verständnis ist es aus Sicht einer LGBT-Person härter. Ich unterstelle einmal, dass viele Verantwortliche in der Kirche – Bischöfe, Priester, verantwortliche Laien und andere – ein Interesse haben, mitfühlender mit Homo- und Transsexuellen umzugehen. Andererseits fühlen sich LGBT-Katholiken aber unglaublich verletzt von der Kirche, besonders vom Klerus. Ich habe wirklich unzählige Geschichten darüber gehört. Gerade erst hat mir eine Frau, die in einem Hospiz arbeitet, von einem Mann berichtet: Er lag im Sterben, aber der örtliche Priester weigerte sich, ihm die Sterbesakramente zu spenden oder ihn auch nur zu besuchen; weil er schwul war. Das zeigt die Art von Schmerzen, die LGBT-Katholiken oft erst überwinden müssen, bevor sie sich der institutionellen Kirche wieder annähern können.
Frage: Ihr Buch basiert auf einem Zitat aus dem Katechismus der katholischen Kirche. Mit diesem Buch ausgerechnet der LGBT-Community zu begegnen wirkt doch erstaunlich.
Martin: Natürlich gibt es viele LGBT-Katholiken, die Schwierigkeiten mit manchen Lehren des Katechismus haben. Das betrifft vor allem das Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen und die Rede von einer "objektiv ungeordneten" sexuellen Orientierung. Aber viele LGBT-Katholiken haben mir auch gesagt, dass sie die Forderung des Katechismus an die Kirche begrüßen, sie mit "Respekt, Mitgefühl und Sensibilität" zu behandeln. Darüber hinaus haben mir viele LGBT-Katholiken gesagt, dass sie dankbar sind für das Gespräch über ihren Platz in ihrer Kirche – denn trotz allem ist sie ihre Kirche.
Frage: Warum halten Sie den Katechismus dennoch für das richtige Werkzeug in diesem Gespräch?
Martin: Er ist sozusagen eine Linse, durch die wir die Situation der LGBT-Katholiken sehen können. Ohne die Lehre zu vernachlässigen, müssen wir auch eine tiefere Ebene betrachten, nämlich die Evangelien. Wenn es um LGBT-Katholiken geht, tendieren wir dazu, den Katechismus zu bevorzugen, als ob er in irgendeiner Weise die Evangelien verdrängen würde. In der Frohbotschaft sehen wir aber, dass Jesus sich dauernd Menschen zuwendet, die sich an den Rand gedrängt fühlen, so wie Homo- und Transsexuelle heute in der Kirche.
Wir dürfen aber noch ein weiteres Werkzeug nicht vergessen, nämlich den Heiligen Geist, der in der Kirche aktiv und lebendig ist. Wir müssen uns fragen: Was sagt der Heilige Geist über unseren Umgang mit LGBT-Katholiken? Wie wirkt der Geist in ihrem Leben und im Leben ihrer Freunde und Familien? Und: Was sagt der Geist uns?
Linktipp: "Ein willkommenes und dringend benötigtes Buch"
Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender gehören zur Kirche - und haben doch kein leichtes Verhältnis mit ihr. US-Jesuit James Martin will das ändern. Sein neues Buch soll helfen, Brücken zu bauen.Frage: In der deutschen Übersetzung des Katechismus ist an der für Ihr Buch entscheidenden Stelle die Rede von "Mitleid", nicht von "Mitgefühl", wie in der englischen Ausgabe. Könnte Ihre "Brücke" auch auf dieser veränderten Vokabel aufbauen?
Martin: Das ist ein sehr spannender Punkt. Ein italienischer Jesuit hat mir kürzlich erzählt, dass das auch auf Italienisch so ähnlich sei. Der englische Begriff aber ist viel näher an den griechischen Wurzeln. Er stammt ab vom Wort "pascho", was "erleben" oder "leiden" bedeutet. Unser "compassion" heißt also, mit jemandem "zu erleben" oder "zu leiden". Das ist viel mehr als simples "Mitleid", was, jedenfalls in unserer Sprache, immer bedeutet, die Situation einer Person mit Traurigkeit, aber aus einer gewissen Distanz, vielleicht sogar von oben herab, zu sehen. "Mitgefühl" in unserem Sinn bedeutet, in das Leben einer Person einzutreten, ihren Standpunkt einzunehmen, einfach bei ihr zu sein und auch mit ihr zu leiden. Das ist es, was Gott in Jesus auch mit uns macht. Und das ist es, was wir für andere Menschen tun sollen. Aber mein Bild von der Brücke kann natürlich in jede Sprache übersetzt werden.
Frage: Sie stehen nachdrücklich für eine einladende Sprache ein. Sie kritisieren etwa die Bezeichnung homosexueller Beziehungen als "ungeordnet". Aber Sie sagen nicht explizit, dass sie auch falsch ist. Warum nicht?
„Ich halte den Begriff "objektiv ungeordnet" für unnötigerweise verletzend.“
Martin: Das Wort "ungeordnet" bezieht sich nicht allein auf den Akt, sondern auf die gesamte Orientierung. Ich halte diesen Begriff für unnötigerweise verletzend. Unsere Sexualität berührt in gewisser Weise alles, was wir tun. Das schließt auch die Art ein, wie wir lieben, selbst wenn es nicht um eine sexuelle Dimension dieser Liebe geht, oder wenn diese gar noch nicht einmal bedacht wird. Wenn man also die Sexualität einer Person als "ungeordnet" bezeichnet, sagt man ihr, dass ihre gesamte Liebe, selbst in ihrer unschuldigsten Form, ungeordnet ist. Das ist für mich einfach eine unnötige Grausamkeit.
Frage: Ihr Buch stützt sich auf die Nummer 2358 des Katechismus. In der darauf folgenden Nummer werden homosexuelle Menschen zu einem enthaltsamen Leben aufgerufen. Warum erwähnen Sie diese Stelle nicht?
Martin: Weil das bekannt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeinen LGBT-Katholiken gibt, der diesen Teil der kirchlichen Lehre nicht kennen würde. Es wurde ihnen schließlich immer und immer wieder gesagt. Genau genommen war es manchmal auch das einzige, was ihnen über sie selbst gesagt wurde. Die Lehre der Kirche in diesem Punkt ist also klar. Und das gilt genauso für die Antwort der LGBT-Community, die lautet, dass viele das nicht leben können und dass sie fühlen, dass diese Lehre ihren Wunsch nach einem gesunden und liebenden Leben entgegengesetzt ist. Jedenfalls berichten mir das viele. Beide Seiten gehen sehr weit auseinander. Ich habe daher beschlossen, mich auf Themen zu beschränken, bei denen man zusammen kommen kann, anstatt auf solche, wo man meilenweit auseinander liegt.
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Frage: Im zweiten Teil Ihres Buches präsentieren Sie eine Auswahl von Bibelstellen mit passenden Impulsfragen, speziell für LGBT-Katholiken sowie deren Freunde und Familien. Welche Idee steht dahinter?
Martin: Für mich ist das der wichtigste Teil des Buches. Ich habe jahrelang "informelle Seelsorge" für LGBT-Katholiken betrieben. Die Menschen sind zu mir gekommen auf der Suche nach geistlicher Führung oder seelsorglicher Beratung, haben die Beichte abgelegt oder einfach um ein Gespräch gebeten. Und über die Jahre habe ich festgestellt, dass bestimmte Bibelpassagen ihnen besonders geholfen haben. Zum Beispiel Psalm 139, in dem es den Vers gibt: "Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast" (Ps 139,14). Etwas so einfaches wie diesen Psalmvers zu meditieren, kann LGBT-Personen helfen, sich selbst, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, von Gott geliebt zu fühlen. Das Buch enthält daher Stellen aus dem Alten und Neuen Testament mit Meditationsfragen, die genau darauf abzielen. Es ist ein Weg, LGBT-Personen und ihren Angehörigen zu helfen, ihre Beziehung zu Gott, zur Kirche und zum eigenen Selbstverständnis zu vertiefen.
Frage: Wie Sie darlegen, spricht aus etlichen Szenen im Leben Jesu die Maxime: "erst die Gemeinschaft, dann die Umkehr". Was bedeutet das im Zusammenhang mit LGBT-Katholiken?
Martin: Ja, zum Beispiel die beiden Geschichten vom römischen Hauptmann oder vom Zöllner Zachäus zeigen uns den Weg Jesu: Menschen nicht zurechtzuweisen, weil sie Andersgläubige sind oder ein bekannter Sünder, sondern sich zu begegnen, zuzuhören und anzunehmen. Jesus hat die Menschen erst willkommen geheißen und in seine Gemeinschaft geholt. Daraus ist die Umkehr gefolgt. Und diese Bekehrung ist jene, zu der wir alle gerufen sind, nicht nur trans- und homosexuelle Personen. Und ich meine damit gewiss keine Art von Therapie, die darauf abzielt, LGBT-Personen "umzupolen". Praktisch jeder seriöse Psychologe lehnt das ab. Ich meine eben jene Umkehr, zu der Jesus uns alle ruft: eine vollkommene Bekehrung der Seele und des Herzens, ein Hinwendung zu Christus.
Linktipp: Jesuit beklagt ungerechte Behandlung Homosexueller
Im Jahr 2016 wurde James Martin von der katholischen Homosexuellenvereinigung "New Ways Ministry" für seinen Einsatz für die LGBT-Bewegung ausgezeichnet. Die Rede, die er bei der Preisverleihung hielt, bildet die Grundlage seines neuen Buches. (Artikel von November 2016)Frage: Nun wollen Sie eine Brücke bauen, die in beide Richtungen geht. Welche Bibelstelle würden sie der Kirche am anderen Ende dieses Weges empfehlen?
Martin: Ich würde die institutionelle Kirche einladen, vor allem die Geschichte von Zachäus zu reflektieren [Lk 19,1-10; Anm. d. Red.]. Als da Jesus durch Jericho geht und den Zöllner im Baum sitzen sieht, ist besonders wichtig, was er als nächstes tut. Denn er zeigt nicht auf ihn und ruft "Sünder!". Noch bevor Zachäus irgendetwas getan hat, sagt Jesus, dass er bei ihm essen möchte; ein für alle sichtbares Zeichen von Offenheit. Erst nachdem Jesus ihm so einladend begegnet, lässt Zachäus sich von ihm zur Umkehr bewegen. Diese Erzählung kann uns viel beibringen, nicht nur in Bezug darauf, wie wir auf LGBT-Leute zugehen, sondern auf alle, die sich ausgeschlossen fühlen.
Frage: Sie schreiben, die institutionelle Kirche habe eine moralische Pflicht, gegen "ungerechte Diskriminierung" Homosexueller einzustehen. Aber wie weit geht das? Ist es zum Beispiel nicht in Ordnung, wenn die Deutsche Bischofskonferenz sich derzeit gegen die "Ehe für alle" stellt?
Martin: Das Problem ist grundlegender. Bevor wir überhaupt über Dinge wie die gleichgeschlechtliche Ehe sprechen können, müssen wir über Brüder und Schwestern sprechen, die verfolgt werden einfach nur weil sie schwul oder lesbisch sind. In vielen Ländern, gerade in Subsahara-Afrika, kann man als Schwuler ins Gefängnis kommen, oder als Aktivist sogar hingerichtet werden. Über solche Diskriminierung spreche ich. Und wo ist die katholische Kirche in diesen Situationen? Wo ist der kirchliche Einsatz für die Menschenwürde einer homosexuellen Person, die geschlagen, eingesperrt oder hingerichtet wird? LGBT-Jugendliche haben auch ein viel höheres Risiko, sich selbst zu töten, als andere. Wo ist unser Einsatz in dieser Frage des Lebensschutzes? Vor der gleichgeschlechtlichen Ehe müssen wir über diese viel grundlegenderen Probleme sprechen.