Missbrauch: Wenn Priester zu Unrecht beschuldigt werden
Paul Magino (66) ist Leitender Pfarrer und Dekan in Wendlingen am Neckar. Seit 2016 ist er Sprecher des Priesterrats der Diözese Rottenburg-Stuttgart. In dieser Funktion vertritt er die Priester der Diözese und damit auch Kleriker, die des sexuellen Kindesmissbrauchs verdächtig werden. Im Interview berichtet er, welche Möglichkeiten der Seelsorge beschuldigte Priester haben und warum eine Rückkehr in die frühere Pfarrei nur selten möglich ist.
Frage: Herr Magino, wenn ein Priester des sexuellen Missbrauchs verdächtig wird, was passiert zuerst?
Paul Magino: So eine Situation kann ganz unterschiedlich ablaufen. Entweder der beschuldigte Seelsorger wird vom Personalreferenten direkt angerufen und mit dem Vorwurf konfrontiert oder im schlimmsten Fall steht die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl bei ihm vor der Tür. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart prüft in jedem Fall die Kommission Sexueller Missbrauch die Plausibilität des Vorwurfs und zwar umgehend und sorgfältig. Der Verdächtigte wird sofort vom Dienst beurlaubt, obwohl in diesem Moment ja nur ein Verdacht vorliegt und noch kein Beweis.
Frage: Wie geht es für den Betroffenen weiter?
Magino: Der Seelsorger verlässt Pfarrhaus und Arbeitsstelle, weil die Situation für ihn und die Kirchengemeinden belastend ist. Der für ihn zuständige Dekan oder ein Vorgesetzter aus dem Ordinariat helfen dem Priester, einen Ort zu finden, wo er wohnen kann und sich aufgehoben fühlt, etwa in einem Kloster oder bei Verwandten. Sie informieren auch die Kirchengemeinden über die Situation. Der Beschuldigte bekommt zunächst nur begrenzte Informationen über die erhobenen Vorwürfe. Es ist daher verständlich, wenn er emotional heftig reagiert. Er fühlt sich von einem Moment auf den andern isoliert. Seine Welt gerät aus den Fugen, denn sein gesamtes Umfeld, dienstlich wie privat, erfährt von der heiklen Situation. Psychisch kann das leicht als Kontrollverlust erlebt werden.
Frage: Ist er damit dem Zugriff der Polizei entzogen?
Magino: Nein. Die staatlichen Organe haben Ansprechpersonen bei der Diözese und können jederzeit über den Personalreferenten des Bistums an den Beschuldigten herankommen und ihn befragen. Der Priester wird nicht versteckt.

Paul Magino (66) ist Leitender Pfarrer und Dekan in Wendlingen am Neckar. Seit 2016 ist er Sprecher des Priesterrats der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Frage: Wie oft kommt so eine Beschuldigung vor?
Magino: Die Fälle sind bei uns in der Diözese Rottenburg-Stuttgart zwar überschaubar, aber jeder einzelne Fall ist einer zu viel. Die Missbrauchskommission informiert den Bischof über die aktuelle Sachlage und den Fortgang der Aufklärung. Sie gibt auch Empfehlungen für das weitere Vorgehen ab. Außerdem wird jeder Fall direkt nach Rom an die Glaubenskongregation gemeldet.
Frage: Wie erfährt die Priesterseelsorge nun konkret von diesem beschuldigten Seelsorger?
Magino: Wenn der Betroffene es wünscht, kann er von sich aus Kontakt mit jemand von unserer Fachstelle "Seelsorge für die Pastoralen Dienste / Priesterseelsorge" aufnehmen. Die Seelsorger oder die Seelsorgerin stehen ihm jederzeit zur Verfügung, doch die Initiative muss von ihm ausgehen. Auch das Personalreferat weist ihn auf verschiedene Möglichkeiten der Begleitung hin. Es informiert aber nicht die Priesterseelsorge über jeden Verdachtsfall. Wenn der Verdächtigte es möchte, kann er selbst einen ausgewählten Seelsorger anrufen. Das Gespräch soll in einem geschützten Rahmen stattfinden und untersteht natürlich auch der Schweigepflicht.
Frage: Welche Angebote werden für die betroffenen Priester aus seelsorglicher Perspektive gemacht?
Magino: In erster Linie sind dies Gesprächsangebote. Dabei geht es darum, dem Beschuldigten unvoreingenommen zu begegnen und ihm, so gut es geht, zuzuhören. Er soll Vertrauen entwickeln können, dass alles getan wird, um seine Situation schnellstmöglich aufzuklären und dass die Missbrauchskommission bemüht ist, mit größter Verantwortung zu handeln. Der Priesterseelsorger kann den Beschuldigten auch zu Gesprächen mit der Missbrauchskommission begleiten und ihn bei staatsanwaltlichen Verhandlungen unterstützen. Aber alles nur in dem Maße, wie es der Betroffene wünscht. Der Seelsorger kann auch weitere Maßnahmen empfehlen, wie etwa eine Psychotherapie oder eine geistliche Begleitung.
„Das Dilemma ist: Selbst wenn eine Schuld nicht nachgewiesen werden kann, kann auch die Unschuld nur in den allerwenigsten Fällen bewiesen werden.“
Frage: Haben Sie selbst schon so ein Gespräch mit einem Betroffenen geführt?
Magino: Nein, bislang noch nicht. Ich habe aber mit einem Priester geredet, der des sexuellen Missbrauchs verdächtigt wurde. Im Nachhinein konnte nichts bewiesen werden. Er hat mir gesagt, dass es für ihn in dieser Situation sehr hilfreich war, regelmäßig mit einem Priesterseelsorger offen reden zu können. Er hat auch einen Psychotherapeuten aufgesucht, weil die Beschuldigungen für ihn nur schwer auszuhalten waren. Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob jemand beschuldigt wird und er weiß, dass da nichts dran ist, oder er weiß, dass er straffällig geworden ist. Ich finde es aber in beiden Fällen wichtig, dass für den Beschuldigten alles getan wird, damit er wieder klar sehen kann. Solange seine Schuld nicht bewiesen wird, gilt die Unschuldsvermutung. Wenn sich der Verdacht jedoch erhärtet, werden entsprechende Maßnahmen getroffen – entweder die Staatsanwaltschaft ermittelt oder der Bischof entscheidet was weiter geschieht, etwa ob der Beschuldigte aus dem kirchlichen Dienst entlassen wird. Auch in dieser Phase kann der Beschuldigte seelsorgliche Begleitung in Anspruch nehmen.
Frage: Wenn sich die Vorwürfe nicht bestätigen und der Priester entlastet wird, kann er dann wieder in der Gemeinde eingesetzt werden?
Magino: Das ist erfahrungsgemäß schwierig. Das Dilemma ist: Selbst wenn eine Schuld nicht nachgewiesen werden kann, kann auch die Unschuld nur in den allerwenigsten Fällen bewiesen werden. Trotz geltender Unschuldsvermutung bleibt da etwas offen. Und genau das können Kirchengemeinden oder die Öffentlichkeit nur schwer nachvollziehen. Wenn einmal so ein Fall über einen möglichen sexuellen Missbrauch in der Zeitung stand, ist die Sache nur schwer wieder einzuholen. Gab es ein kirchliches Verfahren, kann man überlegen, die Staatsanwaltschaft den Fall überprüfen zu lassen, um die Unschuld zu untermauern.

Selbst nach einer fälschlichen Missbrauchs-Anschuldigung ist für Priester die Rückkehr in die frühere Pfarrei kaum möglich, weiß Dekan Paul Magino.
Frage: Kennen Sie dazu einen konkreten Fall aus dem Bistum?
Magino: Ja. Es gab einen Fall, wo die Unschuld eines angeklagten Priesters durch ein staatsanwaltschaftliches Verfahren festgestellt wurde. Es gab also keine Beweise, die Sache war juristisch erledigt. Der Priester bekam eine Seelsorgestelle in einer neuen Gemeinde. Doch die Gemeinde akzeptierte ihn nicht, er musste wieder gehen. Das lag auch daran, dass Personen aus seiner früheren Gemeinde die neue Gemeinde vor diesem Priester gewarnt haben. In der Zwischenzeit hat dieser Priester einen anderen kirchlichen Dienst in der Diözese übernommen. Früher wurden in einigen Diözesen beschuldigte Seelsorger gerne ins Ausland versetzt. Das macht man heute Gott sei Dank nicht mehr. Es braucht eine transparente und ehrliche Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs mit allen Konsequenzen von Anfang an.
Frage: Was müsste von Seiten der Diözese für einen Priester getan werden, damit so ein Neuanfang in einer Gemeinde gelingen kann?
Magino: Laut der diözesanen Präventionsordnung muss die Diözese oder die Einrichtung die Person schützen und rehabilitieren, wenn ein Verdacht sich als falsch herausstellt. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Entscheidend ist, die Personen, die vom Verdacht erfahren haben, im selben Umfang über die Entlastung des Beschuldigten zu informieren. Wenn in den Medien ein Verdacht womöglich mit einem bestimmten Ort oder gar einem Namen in Zusammenhang gebracht, ist das kaum mehr zurückzuholen. Umso wichtiger ist viel Kommunikation mit den Kirchengemeinden und dem Betroffenen. Da ist auch in der Praxis sicher noch Luft nach oben, noch einiges zu tun.