Neuerfindung einer jahrhundertealten Tradition
"Nicht wenige Wallfahrtsorte sind dabei, sich auf dem Markt nochmal ganz neu aufzustellen", hat etwa Wolfgang Isenberg von der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg beobachtet, die kürzlich eine Tagung zu den aktuellen Herausforderungen der Wallfahrten ausgerichtet hat. Und auch Martin Lörsch, Professor für Pastoraltheologie an der Universität Trier ist sich sicher: "Die Wallfahrtsorte stehen vor tiefgreifenden Veränderungen". Er hat sich wissenschaftlich mit der Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier auseinandergesetzt. Seine Analyse ist ebenso kurz wie schonungslos: "Die klassischen Wallfahrtsformate brechen weg." Die traditionellen Ausflüge mit dem Bus oder Zug, oft organisiert von der Heimatpfarrei, sind heute lange nicht mehr so beliebt wie früher. So hat etwa das bayerische Pilgerbüro beobachtet, dass die Zahl der Wallfahrer nach Lourdes in zehn Jahren von 13.000 auf 3.000 gesunken ist.
"Eine Art spirituelles Wandern"
Doch das ist nicht das einzige Problem. Wie die Experten berichten, könnte es künftig auch auf Seiten des Personals an Wallfahrtsorten zu Engpässen kommen - etwa, weil Orden, die die Orte betreiben, mit so starken Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben, dass sie sich zurückziehen. Dennoch müssen die Verantwortlichen nicht pessimistisch in die Zukunft schauen. Denn das individuelle Pilgern, das spätestens seit Hape Kerkelings Buch über den Jakobsweg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, liegt im Trend. "Auch in Deutschland wurde das Wegenetz in den vergangenen Jahren weiter ausgebaut", berichtet Lörsch: Der Martinusweg, die Elisabethpfade und der Lutherweg sind dafür nur einige Beispiele.
Hinter den neuen Formen des Wallfahrens steht auch eine gewandelte Motivation: Als "Sinnsucher" werden die individuellen Pilger gern bezeichnet, die gar nicht unbedingt aus dem engeren kirchlichen Milieu kommen. So hat eine wissenschaftliche Untersuchung über den Jakobsweg etwa ergeben, dass rund 20 Prozent der Wanderer noch nicht einmal getauft sind. "Vielen Individualpilgern geht es eher um eine Art spirituelles Wandern, um eine Phase mit sich, darum, die eigenen körperlichen Grenzen zu erfahren", erklärt Wolfgang Isenberg. Manche machten sich auch einfach als Touristen auf den Weg und seien etwa interessiert an der jeweiligen Architektur, so der Akademiedirektor. Als Beispiel nennt er die Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel, die vor allem wegen ihres berühmten Erbauers, dem Schweizer Architekten Peter Zumthor, sehr beliebt ist.
Die Gründe für die Entwicklung weg vom klassischen Wallfahren hin zum individuellen Pilgern liegen aus Sicht der Experten auf der Hand. Als Zeichen der Zeit bewertet sie Domkapitular Rolf Lohmann, Wallfahrtsdirektor in Kevelaer. "In der Gesellschaft gibt es starke Individualisierungstendenzen, und so ist es auch beim Pilgern", erklärt er. Aber auch als Spiegel für eine veränderte Kirche wird der Trend gesehen: Eine mehr oder weniger automatische "volkskirchliche Bindung" gebe es nicht mehr, meint Martin Lörsch. Vielmehr stünden immer mehr Menschen nur noch punktuell mit der Kirche in Kontakt - und seien eben auch beim Pilgern eher individuell unterwegs als mit einer Kirchengemeinde. In Bezug auf die Gruppenwallfahrten erläutert auch Wolfgang Isenberg: "Wenn früher acht Pfarreien mit jeweils 50 Leuten unterwegs waren, diese Pfarreien aber heute zu einem großen Verbund zusammengefasst sind, heißt das noch lange nicht, dass weiterhin 400 Menschen kommen".
Pilgern: Auf dem Weg zu Gott
Die Nähe Gottes spüren - das ist das Ziel vieler Gläubiger, die sich zu religiösen Stätten in aller Welt aufmachen. Jährlich begeben sich etwa 40 Millionen Christen auf eine Pilgerreise. Katholisch.de stellt die Tradition der Wallfahrt, wichtige Bräuche und bekannte Pilgerziele vor.Nun komme es darauf an, dass die Kirche adäquat auf Veränderungen reagiere. Wenn etwa Personalstrukturen wegbrächen, müssten die Diözesen frühzeitig reagieren und Lösungen suchen, fordert Martin Lörsch. Und auch, was die spirituelle Ausrichtung angeht, sieht er noch Luft für neue Ideen. So könne an Orten mit Heilquellen - wie etwa in Lourdes - die Wassersymbolik als Erinnerung an die Taufe noch stärker zum Tragen kommen: "Es geht dabei um Lebensanfang und Tod, Abschied und Neubeginn, um die Verheißung, als Kinder Gottes geliebt zu sein - Themen, die auch heute noch aktuell sind", ist der Theologe überzeugt.
Angebote für bestimmte Zielgruppen
Viele Wallfahrtsorte haben bereits gehandelt und Angebote in ihr Programm mit aufgenommen, die sich nicht an die Allgemeinheit, sondern an bestimmte Zielgruppen wenden: Motorradwallfahrten sind das klassische Beispiel. In Kevelaer etwa gibt es auch noch eine Karnevalisten- und eine Europawallfahrt. Und auch Wallfahrten speziell für Rettungskräfte oder Menschen mit Multipler Sklerose zum dortigen Gnadenbild der "Trösterin der Betrübten" stehen auf dem Programm. An eher kirchenferne Menschen richten sich besonders niederschwellige Angebot wie Kerzensegnungen oder sogenannte geistliche Kirchenführungen.
Dass es gerade beim individuellen Pilgern nicht immer nur um religiöse Motive geht, ist zumindest für Martin Lörsch kein Problem, sondern eine Chance. "Man muss die Menschen zur Kirche kommen lassen und sie idealerweise verändert wieder gehen lassen". Wichtig sei, dass es an Wallfahrtsorten oder -wegen geschulte Menschen gebe, die den Suchenden Antworten auf ihre Glaubensfragen geben könnten. Es gelte, ihnen den Glauben auf diskrete Art und Weise anzubieten - "proposer la foi" hat die französische Bischofskonferenz das einmal genannt. Bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 wurden über 2.400 ehrenamtliche Helfer akquiriert. Nicht wenige von ihnen seien weiter engagiert und hätten über diesen Dienst neuen Zugang zu Glaube und Kirche gewonnen, berichtet Martin Lörsch schmunzelnd: "Das sind dann sozusagen die positiven Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Engagements".