Religion, das Böse und der Tod bei Harry Potter
Vor 20 Jahren erschien hierzulande das Buch, das bald alle Rekorde brach, Kinder wieder zu Leseratten machte und ganze Generationen prägte: Am 28. Juli 1998 kam "Harry Potter und der Stein der Weisen" in die Buchläden. Autorin Joanne K. Rowling schreibt darin über einen von seiner Pflegefamilie misshandelten Waisenjungen, der an seinem 11. Geburtstag erfährt, dass er ein Zauberer ist. Im Zauberinternat Hogwarts lernt Harry seine Talente und erstmals auch Freunde kennen – und er muss sich der Bedrohung durch Lord Voldemort, dem Mörder seiner Eltern, und dessen wiedererstarkendem Regime entgegenstellen.
Die deutsche Übersetzung erschien gut ein Jahr nachdem "Harry Potter and the Philosopher’s Stone" mit einer Erstauflage von nur 500 Exemplaren in Großbritannien veröffentlicht wurde. Doch schon damals konnte man ahnen, dass das Buch erfolgsversprechend ist. Was damals noch nicht absehbar war: dass die Reihe sich immer mehr vom Kinder- zum Jugendbuch entwickeln wird, in dem existenzielle Fragen nach Verantwortung, der genauen Unterscheidung von Gut und Böse, Schuld und Vergebung eine große Rolle spielen würden.
Überwindung eines dualistischen Schwarz-Weiß-Denkens
Heutzutage setzen sich auch Theologen mit dem Inhalt auseinander. Der methodistische Pfarrer Peter Ciaccio lobt an den Werken etwa die Überwindung eines Dualismus, wie er in altertümlichen Religionen und christlichen Häresien vorkomme. In den Potter-Büchern werde weder die magische Welt Harrys noch die Welt der Nicht-Magier als ideale Welt im Gegensatz zu der je anderen Welt präsentiert. Ciaccio reagiert damit auf Aussagen wie die des US-Literaturwissenschaftlers Michael Bronski, der monierte, die Bücher erzählten "Kindern, dass Normalsein uninteressant, fantasielos und dumm ist". Laut dem italienischen Methodisten ist die Handlung komplexer, als dass man die gute von der bösen Seite klar trennen könnte. Vielmehr schwebe die Versuchung zum Bösen über dem Protagonisten und seinen Freunden, während fast allen auf der Seite der dunklen Magier die Möglichkeit zur Umkehr aufgezeigt werde. Autorin Joanne K. Rowling warne vor dem Bösen "in einer Art und Weise, die einem evangelischen Christen sogleich als paulinisch anmuten muss", so Ciaccio.
„...dies sind subtile Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte.“
Dabei sah es nach wohlwollenden Kritiken aus christlicher Perspektive anfangs noch nicht aus. Als der Hype um die Geschichte des Zauberlehrlings zu Beginn des neuen Jahrtausends begann, gab es vor allem von christlich-fundamentalistischer Seite massive Negativkritik. In den USA kam es zu Bücherverbrennungen wegen des angeblich okkulten Subtextes; auch im Schwabenland wurde ein Band verbrannt und sämtliche "Harry Potter"-Bücher aus einer evangelischen Gemeindebücherei entfernt. Die einige Jahre zuvor um Katholizismus konvertierte deutsche Publizistin Gabriele Kuby fand 2003 sogar Unterstützung von dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger. Als sie ihm ihr eigenes Potter-kritisches Buch zuschickte, antwortete der spätere Papst in einem Brief: "Es ist gut, dass Sie in Sachen Harry Potter aufklären, denn dies sind subtile Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte."
Später zeigten sich nicht nur Theologen und Sektenbeauftrage gelassener, sondern auch der Vatikan. In ihrem Kulturteil lobte die Vatikanzeitung "L'Osservatore Romano" die Verfilmungen der Reihe – wie übrigens auch die der Vampir-Saga "Twilight". Der katholische Fundamentaltheologe Magnus Striet würdigte anlässlich der Veröffentlichung des letzten Bandes der Reihe im Jahr 2007, dass Rowling mit literarischen Möglichkeiten versuche, darzustellen, was Freundschaft, Liebe, Humanismus und Verpflichtung gegenüber dem Guten und anderen Menschen seien. Thomas Gandow, der damalige Berliner Sektenbeauftrage der evangelischen Landeskirche, begründete mit dem Erfolg der Bücher gar seine Forderung, dass das Niveau in der christlichen Jugendarbeit nicht gesenkt werden dürfe: Die Verwendung lateinischer Zaubersprüche und komplexer Sachverhalte bei Harry Potter zeige, dass Jugendliche durchaus in der Lage seien, Gespräche über Lebensfragen "auf hohem Niveau" zu führen.
Kirchgängerin Rowling thematisiert Religion nicht explizit
Aber was ist mit der Autorin und dem Thema Religion in den Büchern selbst? Einige Monate nach Veröffentlichung des letztes Harry-Potter-Bands sprach Rowling in einem Interview mit der niederländischen Tageszeitung "De Volkskrant" über ihren religiösen Hintergrund. Als Teenager sei sie die einzige in der Familie gewesen, die in die anglikanische Kirche ging. In der Studienzeit habe sie sich distanziert, könne nun aber wieder sagen "Ja, ich glaube". Sie gehöre inzwischen der reformierten Church of Scotland an und gehe in Edinburgh in die Kirche.
In ihren Büchern wird die Religion allerdings nicht explizit thematisiert. Weihnachten in Hogwarts wird zwar mit den üblichen britischen Traditionen dargestellt, aber ohne Verweis auf den christlichen Hintergrund. Auch die Beerdigung des Schulleiters Albus Dumbledore kommt gänzlich ohne religiöse Elemente wie Gebete aus. Erst im letzten Buch "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" zitiert Rowling die Bibel. Als der nun erwachsene Harry erstmals in seinen Geburtsort zurückkehrt, dringen Weihnachtslieder aus der Kirche. Auf dem dazugehörigen Friedhof stößt er auf die Inschriften "Wo dein Schatz ist, da wird dein Herz auch sein" (Mt 6,21) und – auf dem Grab seiner Eltern – "Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod" (1 Kor 15,26). Durch diese Zurückhaltung der Autorin würden Leser anderer Religionen oder Atheisten weder verschreckt noch vereinnahmt, lobt Ciaccio in seinem Buch "Harry Potter trifft Gott" aus dem Jahr 2012.
Bereits im dritten Buch erfährt man allerdings, dass Harry ein Christ ist. Er wurde als Baby getauft und hat einen Paten. Laut dem Sektenbeauftragten Gandow ist der junge Zauberer allerdings "so ahnungslos über die eigene Religion" wie ein Großteil der Menschen der Gegenwart. Harry verstehe die christliche Tradition und seine Wurzeln nicht, verhalte sich dennoch immer wieder christlich. Das Liebesopfer seiner Mutter, die ihr Leben für ihn hingab, seine Freundschaften in der Zaubererwelt und seine eigenen Entscheidungen machen Harry mehr und mehr zu einem Menschen, der Mitgefühl für alle Geschöpfe entwickelt. Aus Erbarmen rettet er den Mann, der seine Eltern an Voldemort verraten hat, und fühlt mit den Armen und Ausgestoßenen an seiner Schule. Harry freundet sich auch mit vielen Personen und Wesen an, die von großen Teilen der Zauberergesellschaft geächtet oder missbilligt werden, wie Halbriesen, Werwölfe und Hauselfen. "Ja, er hat gewisse Züge eines Messias", sagte Rowling der niederländischen Zeitung.
Kein Gott und keine Erlösung
Neben der Liebe ist ein weiteres zentrales und durchaus christliches Element der Bücher die Möglichkeit zur Reue und Umkehr. Im Kampf mit dem ehemals dunkelsten Zauberer Gellert Grindelwald hatte Schulleiter Albus Dumbledore diesen verschont und ihm die Möglichkeit gegeben, seine bösen Taten zu bereuen. Und tatsächlich verweigert Grindelwald nach Jahrzehnten im Gefängnis Voldemort die Hilfe und stirbt lieber. Dumbledore selbst bereut zeitlebens einen Fehler, der seine Schwester das Leben kostete, und verzichtet auf politische Machtpositionen. Der Lehrer Severus Snape bereut den Tod von Harrys Mutter – seiner unerwiderten Liebe – so sehr, dass er die Seiten wechselt und als Doppelagent unter Lebensgefahr Voldemort ausspioniert. Auch Harrys gleichaltriger Schulfeind Draco Malfoy wendet sich in einem mehr als ein Jahr dauernden Prozess von der Seite Voldemorts ab – nachdem er Liebe und Schutz durch seine Mutter und seine Lehrer erfahren hatte und den grausamen Taten des Bösewichts zusehen musste.
Bei aller Religiosität, die man aus den sieben Bänden herauslesen kann, bleibt doch ein großer "Weißer Fleck": bei den Themen Tod und Erlösung. Zwar wird das Sterben spätestens ab dem Ende des vierten Buchs behandelt, weil mehr und mehr Personen aus Harrys Umfeld getötet werden, aber der Tod bleibt ein schwammiger Zustand. Manche Verstorbene sprechen miteinander auf den Porträtmalereien in Hogwarts, andere kommen als Geister wieder, wieder andere – wie Harrys Pate Sirius Black – verschwinden einfach.
Was Harry am Ende Voldemort besiegen lässt – ohne ihn selbst zu töten – ist, dass er bereit ist, zu sterben. Rowling sagte dazu: "Jeder Tag, an dem man sich bewusst macht, dass man sterben wird, lebt man besser; besser für sich und besser für die anderen." Ob aber eine von Dumbledore angedeutete Möglichkeit eines Jenseits in ihrer Zauberwelt vergleichbar ist mit den Vorstellungen der Religionen, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls kommt Gott in keinem der Bücher zur Sprache. Es gibt damit keine Möglichkeit der Erlösung – keine Instanz steht über den magischen oder nichtmagischen Menschen, die die vielen Toten und deren Opfer wieder ins rechte Bild setzen könnte. Hier ist die Fantasie und der Glaube der Lesenden gefragt, um zu einer eigenen Antwort zu finden.