Bei Merlins Bart
Es ist unbestreitbar, dass Joanne K. Rowlings Fantasy-Buchreihe Harry Potter die Welt verändert hat – vor allem den jüngeren Teil der Welt. Das zeigte sich am Dienstag und Mittwoch an der Universität Bonn: Trotz vorlesungsfreier Zeit und Vorträgen auf Englisch war der Festsaal der Uni von morgens bis am späten Nachmittag gefüllt. Auf den Stühlen und auf dem Boden saßen die Studierenden und Fans der Zauberwelt, die zur Studentenkonferenz "Happy Birthday, Harry" anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des ersten Bands in die Bundesstadt gekommen waren. Teilweise trugen sie Umhänge, Pullover oder T-Shirts aus dem Fan-Shop – in den Farben der einzelnen Häuser der Zaubereischule Hogwarts.
In 21 Vorträgen analysierten Promovierende und Studierende Themenbereiche wie die Fantasietiere aus der Mythologie, die Gewalt, den Rassismus und sogar das Rechtssystem in der Buchreihe. Neben Viktorianischen Werten wurde auch die Rolle der Religion in den Büchern abgeklopft. Rowling selbst sagte einmal, dass sie die Zauberei-Saga aus all ihren eigenen Lesefrüchten erschaffen habe. Die Studentin Vera Bub will mit ihrem Vortrag zeigen, dass Religion in der Populärkultur durchaus präsent sei, auch in Harry Potter.
Einige christliche Gruppierungen hatten Rowling zur Jahrtausendwende kritisiert und vor den Büchern, die Hexerei positiv darstellen würden, gewarnt. Andersherum war das nicht der Fall: "Religion wird in den Büchern nicht kritisiert," referiert Vera Bub. "Sie wird einfach nicht thematisiert", Statt "O mein Gott" sagen die Zauberer und Hexen "Bei Merlins Bart". Weihnachten in Hogwarts spiele zwar eine große Rolle, werde aber mit den üblichen britischen Traditionen dargestellt und ohne Verweis auf den christlichen Hintergrund, so die 21-Jährige. Bemerkenswert sei auch die Beerdigung des Schulleiters Albus Dumbledore, die gänzlich ohne religiöse Elemente wie Gebete auskomme.
Bibelstellen auf Grabsteinen
Die einzige Ausnahme, in der Religion explizit vorkommt, hat es dafür in sich: In nur einem Kapitel des letzten Buchs "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" tauchen eine Kirche und zwei Bibelstellen auf. Als der als Baby verwaiste Harry als Erwachsener erstmals in seinen Geburtsort zurückkehrt, dringen Weihnachtslieder aus der Kirche. Auf dem dazugehörigen Friedhof stößt er auf die Inschriften "Wo dein Schatz ist, da wird dein Herz auch sein" und – auf dem Grab seiner Eltern – "Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod".
Im Buch selbst wird nicht gesagt, woher die Sätze stammen. "Als ich das mit zwölf oder 13 Jahren las, habe ich die Stellen nicht verstanden", sagt Vera Bub, die in Bonn Englisch und Musikwissenschaft studiert. Bei der Relektüre unter dem Aspekt der Religion sei ihr klar geworden, dass es sich um je einen Satz aus der Bergpredigt (Mt 6,21) und aus dem ersten Korintherbrief (15,26) handelt. Dass der junge Zauberer keinen Bezug zu Religion oder christlicher Tradition habe, zeige sich, als Harry die Worte beider Inschriften nicht versteht. Als seine Freundin Hermine ihm sagt, dass "Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod" auf ein Leben nach dem Tod deuten könnte, stellt Harry für sich traurig fest, dass seine Eltern nicht leben, sondern unter der Erde begraben liegen.
Und dennoch gibt es viele Stellen in den Büchern, die die Frage nach einem Leben nach dem Tod aufwerfen, etwa die Hausgeister. Aber als Harry einen von ihnen nach dem Jenseits fragt, sagt ihm der Geist Nick, dass er nur aus Angst vor dem Sterben ein Geist wurde und nichts über ein mögliches Leben nach dem Tod wisse. Als sein Patenonkel Sirius stirbt und hinter einem magisch verhängten Torbogen fällt, kann Harry zwar die Stimmen der Toten hören, aber nicht mit ihnen kommunizieren.
Maria Zielenbach, die in Köln studiert, hat sich mit dem "Tod als schwammigen Zustand" in den Büchern auseinandergesetzt. Es gebe im "Märchen der Drei Brüder" sogar ein Konzept des Todes, das allerdings als Legende von der Zauberwelt selbst nicht für voll genommen werde. In der Praxis gelte man in den Büchern als tot, wenn die Körperfunktionen aufhören, die Seele aber könne nicht durch ein Schwert zerstört werden und gelte als unsterblich, so Zielenbach. Verstorbene bewegen sich auf magischen Fotos, sie sprechen miteinander auf den Porträtmalereien in Hogwarts und können in einigen wenigen Fällen mit den Lebenden interagieren: Bei einem Nahtoderlebnis trifft Harry den verstorbenen Dumbledore und bespricht sich mit ihm ausführlich. Und als die letzten ermordeten Opfer des Bösewichts Voldemort als Schattenbilder aus seinem Zauberstab steigen, bittet der Schulfreund Cedric Harry darum, seinen toten Körper zu seinen Eltern zu bringen.
Märtyrer für die Liebe
Zwar sagt der weise alte Schulleiter Dumbledore an einer Stelle, dass "der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer" sei. Alles in allem sei es aber schwer zu beurteilen, ob die angedeutete Möglichkeit eines Jenseits in Rowlings Zauberwelt vergleichbar sei mit den Vorstellungen in unseren Religionen, sagt Vera Bub. "Ob von der Autorin intendiert oder nicht: Aus christlicher Sicht fällt die Nähe zu Jesus Christus auf, als Harry und zuvor seine Mutter sich aus Liebe opfern". Sie stirbt für ihren Sohn und er ist bereit, für seine Freunde zu sterben. Nachdem Harry akzeptiert hat, sich als Selbstopfer kampflos auszuliefern, lässt ihn dies den tödlichen Angriff überleben. Er bleibt bis zum Ende gut und besiegt Voldemort, ohne ihn selbst zu töten.
Nach Vera Bubs Vortrag diskutieren die Studierenden darüber, ob andere Religionen als das Christentum in der Serie auftauchen. In den Büchern sei das nicht der Fall, aber eine Zuhörerin weist darauf hin, dass die Patil-Zwillingsschwestern in den Filmen ein Bindi auf der Stirn haben, ein ursprünglich hinduistisches Zeichen.
Das Potter-Universum wächst trotz des Endes der Buchreihe vor zehn Jahren weiter. Mit den religiösen, ethischen und humanistischen Aspekten beschäftigen sich Wissenschaftler in Essays und sogar in einem Podcast, in dem die Bücher so gelesen und ausgelegt werden, als wären sie religiöse Schriften. Auch J. K. Rowling erweitert die Zauberwelt, indem sie weiterschreibt und öffentlich auf Leserfragen antwortet. Da die Bücher im britisch-europäischen Kontext spielten, sei Harry ein Christ, verriet sie bereits 2004. Lily und James Potter hätten ihren Sohn taufen lassen. Wegen des Krieges sei es eine eilige, stille Zeremonie mit nur einem Gast gewesen, Harrys Patenonkel Sirius.