Sie trugen die Wundmale Jesu – oder?
Es ist eines der rätselhaftesten Phänomene, die im Leben eines gläubigen Christen auftreten können: die Stigmatisation – das Sichtbarwerden der Wundmale Jesu Christi am eigenen Körper. Menschen, die im Laufe der Geschichte Stigmata "empfangen" haben, sahen sich vor allem zwei Reaktionen ihrer Umwelt ausgesetzt: Argwohn und Misstrauen auf der einen, Faszination und Verehrung auf der anderen Seite. Ein gutes Beispiel für dieses Spannungsverhältnis ist der wohl populärste Heilige Italiens: Pio von Pietrelcina – bekannt als Padre Pio. Vor 100 Jahren, am 20. September 1918, traten die Wundmale Jesu bei dem süditalienischen Kapuzinermönch erstmals auf – und er sollte sie ein halbes Jahrhundert lang, bis zu seinem Tod am 23. September 1968, tragen. Doch Padre Pio war nur einer unter vielen Stigmata-Trägern. Wo nahm das mysteriöse Phänomen seinen Ursprung, wie häufig kommt es vor – und: Lässt es sich erklären?
Der Begriff "Stigma" stammt aus dem Griechischen und wird mit "Zeichen" oder auch "Stich" übersetzt. In der Antike wurde mit dem Wort ein eingebranntes oder eintätowiertes Mal bezeichnet, das sowohl als Schmuck als auch als Eigentumszeichen – etwa bei Gefangenen, Sklaven oder Tieren – diente. Entsprechend wird in der Soziologie noch heute der Terminus "Stigmatisierung" für ein Brandmarken, Ausgrenzen und Herabwürdigen bestimmter Gruppen oder einzelner Individuen gebraucht. Die Male konnten darüber hinaus auch Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion sein. Im christlichen Kontext taucht der Begriff Stigma dann erstmals im Neuen Testament auf: Der Apostel Paulus berichtet in seinem Brief an die Galater "Ich trage die Zeichen (Stigmata) Jesu an meinem Leib" (Gal 6,17). Da an dieser Stelle jedoch keine weitere Erläuterung folgt, bleibt unklar, welche Zeichen der Apostel genau meint und ob es sich tatsächlich um äußerlich sichtbare Wundmale gehandelt hat.
Wie dem auch sei: Das Phänomen taucht in nachbiblischer Zeit Jahrhunderte lang nicht mehr auf – bis ins Mittelalter fehlen Hinweise für Stigmatisationen. Der erste belegte Fall ist der des heiligen Franz von Assisi (1181/82-1226). Auf dem Berg La Verna in der Toskana zeigten sich am 14. September 1224 bei dem Ordensgründer nach einer Vision die Male der Kreuzigungsnägel und der Seitenwunde Jesu. Franziskus selbst hielt seine Stigmatisation zeitlebens geheim, erst ein Ordensbruder machte sie posthum in einem Rundbrief an die Gemeinschaft publik. Die Nachwirkung war enorm, die Zahl der Stigmatisationen stieg in der Folge rasant – was Hand in Hand mit einer steigenden Passionsfrömmigkeit ging.
Spuren der Dornenkrone am Schädel
Die vermutlich erste Frau, bei der die Wundmale Jesu auftraten, war die selige Christina von Stommeln (1242-1312). Seit ihrer Jugend soll die Begine und Mystikerin von Visionen und Dämonenerscheinungen heimgesucht worden sein. Ab dem 15. Lebensjahr zeigten sich bei ihr die Wundmale – besonders deutlich waren sie Berichten zufolge in der Karwoche zu sehen. Auf ihre Zeitgenossen übte Christina eine ungemeine Faszination aus, die ihr bald den Ruf der Heiligmäßigkeit einbrachte. Gleichzeitig erfuhr sie von ihrer Umwelt auch Ablehnung – so etwa von ihren Mitschwestern, denen die ekstatischen Entrückungszustände während ihrer Visionen nicht geheuer waren. Heute ist die Selige aus dem Rheinland – zumindest überregional – weitestgehend in Vergessenheit geraten; ihre Reliquien ruhen in Jülich, ihr Schädel soll Spuren einer Dornenkrone aufweisen.
Das wohl prominenteste Beispiel für eine Stigmatisierte des Mittelalters ist die heilige Katharina von Siena (1347-1380). Bei der geweihten Jungfrau und Kirchenlehrerin, die heute als Schutzpatronin Europas verehrt wird, trat die Stigmatisation am 1. April 1375 auf, während sie vor einem Kreuz in Pisa betete. Auf wunderbare Weise sollen an ihrem Körper die Wundmale Jesu erschienen sein, zunächst sichtbar für alle. Der Überlieferung nach bat Katharina Gott jedoch darum, dass die Stigmata vor der Welt verborgen bleiben sollten – sodass sie fortan nur noch für sie selbst sicht- und spürbar gewesen sollen. Wie Franziskus gehört auch die Heilige aus Siena heute zu den populärsten Heiligengestalten überhaupt.
Die Kapuzinerin Veronica Giuliani (1660-1727) zählt nicht nur zu den bekanntesten Stigmatisierten der frühen Neuzeit, ihr Fall zeigt zudem, welcher Ablehnung die Betroffenen ausgesetzt sein können. Nach Visionen des Kreuzes Christi erhielt Veronica am Karfreitag des Jahres 1697 die Stigmata sichtbar an Händen und Füßen – die Wunde am Herzen soll nur für sie selbst wahrnehmbar gewesen sein. Schmähungen und Spott durch ihre Mitschwestern folgten. Deren Denunziationen führten dazu, dass Veronica von der Inquisition verhört und gefoltert wurde. Letztlich kam es jedoch nicht zum Prozess, da es keine Beweise für die Anschuldigungen gegen sie gab und ihr kein Betrug nachgewiesen werden konnte. Bei der Sektion nach ihrem Tod durch zwei Ärzte und in Gegenwart weiterer Zeugen fand man angeblich ihr Herz ganz durchstochen. Heute ist sie – vor allem in Italien – eine beliebte Heilige.
Zunehmende Untersuchung des Phänomens
In der jüngeren Vergangenheit kam es vermehrt zu wissenschaftlichen Untersuchungen von Stigmatisationen. So etwa im Fall der seligen Anna Katharina Emmerick (1774-1824). Im Jahr 1812 zeigten sich bei der Augustinerin aus dem Münsterland die Wundmale Christi an Händen, Füßen, Kopf und Brust. Hinzu kamen Visionen von Ereignissen aus der biblischen Heilsgeschichte, die sie bis zu ihrem Tod begleiteten. An jedem Freitag soll sie die Leidensgeschichte Jesu durchlitten haben. In der gläubigen Bevölkerung führten die Geschehnisse einerseits zu einer großen Verehrung, andererseits zu schweren Verleumdungen. Der Fall erregte auch die Aufmerksamkeit von Kirche und Staat. Eine preußische Untersuchungskommission überprüfte die Ereignisse intensiv, konnte letztlich jedoch keine Nachweise für einen Betrug erbringen. Der Schriftsteller Clemens Brentano dokumentierte die Visionen von Anna Katharina im Buch "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus". Dieses wiederum wurde Vorlage für Mel Gibsons Film "Die Passion Christi".
Im 20. Jahrhundert erregte – neben Padre Pio – der Fall Therese Neumann, genannt Resl von Konnersreuth (1898-1962), große Aufmerksamkeit. Bei der oberpfälzischen Mystikerin zeigten sich ab 1926 Stigmata und Blutungen aus den Augen. Wie bei Christina von Stommeln traten die Phänomene an Karfreitagen besonders deutlich in Erscheinung. Seit dem erstmaligen Auftreten der Wundmale soll Neumann zudem – mit Ausnahme der Kommunion – nicht mehr gegessen oder getrunken haben. Dazu hatte sie regelmäßige Visionen von biblischen Szenen. Bereits zu Lebzeiten pilgerten zahlreiche Menschen zur Stigmatisierten. Neben großer Verehrung gab es jedoch auch massive Zweifel an der Echtheit der Wundmale. Das zuständige Bischöfliche Ordinariat Regensburg ließ den Fall 1927/28 von Medizinern untersuchen. Zwar konnte ein Betrug nicht nachgewiesen werden, doch blieb eine große Skepsis auf kirchlicher Seite. Erst 2005 eröffnete der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller einen Seligsprechungsprozess für Neumann.
Bis zu 350 Fälle
Je nach Zählung gab es in der Geschichte bislang bis zu 350 Fälle von Stigmatisationen. Vornehmlich scheinen die Wundmale bei Menschen mit großer Passionsfrömmigkeit sowie hohen (auto-)suggestiven Fähigkeiten aufzutreten. Mediziner konnten das Phänomen bis heute nicht zweifelsfrei klären. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich um Wunden, die weder abheilen noch sich entzünden können. Eine tatsächlich übernatürliche Erklärung für Stigmata ist nicht auszuschließen. Gleichwohl haben Versuche ergeben, dass sich adäquate Wunden auch durch psychische Beeinflussung – etwa durch Hypnose – herbeiführen lassen. Somit könnte ein tiefes Hineinfühlen in die Leiden Christi bei manchen Menschen durchaus zum Auftreten der Kreuzigungswunden führen.
Für die Kirche jedenfalls spielen Stigmatisationen nur am Rande eine Rolle. Sie begegnet dem Phänomen mit Zurückhaltung und sieht keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Sichtbarwerden der Wundmale und einem Erweis von Heiligkeit. 13 Stigmatisierte wurden bislang heilig-, einige weitere seliggesprochen.
Am 2002 kanonisierten Padre Pio zeigt sich, dass die Echtheit der Stigmata auch für eine tiefe Verehrung durch die Gläubigen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Kritiker hatten schon zu Lebzeiten den Verdacht geäußert, der Pater habe sich seine Wundmale mit ätzenden Stoffen selbst zugefügt. Eine vatikanische Untersuchungskommission wertete die Stigmata in den 1930er-Jahren dagegen als Ergebnis von Autosuggestion – sah also eine durch das Unterbewusstsein gesteuerte Herbeiführung der Wunden. Der Verehrung tat dies alles jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil: Die Wirkungs- und Begräbnisstätte von Padre Pio in San Giovanni Rotondo ist heute mit bis zu sieben Millionen Pilgern jährlich einer der meistbesuchten Wallfahrtsorte der Welt.