Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirchen sei defizitär

Sozialforscher: Frauen als Missbrauchstäterinnen in den Blick nehmen

Veröffentlicht am 03.01.2019 um 15:39 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Die kirchliche Missbrauchsaufarbeitung ist laut dem Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp noch äußerst defizitär. Ein Grund: Frauen – etwa Nonnen und Diakonissen – seien als Täterinnen bislang kaum im Blick.

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Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp sieht anhaltende Defizite in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Kirchen. So seien Frauen als Täter bisher vernachlässigt worden, sagte der Experte in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Donnerstag).

Das Mitglied der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Aufarbeitungskommission sprach sich für ein Interventionsrecht zugunsten seines Gremiums aus. "Die Kommission sollte das Recht haben, auf Institutionen zuzugehen, die bisher schweigen und mauern." Er denke da vor allem an Klöster und kirchliche Heime, "wo Nonnen und Diakonissen tätig waren".

Keupp sagte, der Staat sei bei der Aufklärung von Missbrauch mit in der Verantwortung. "Er erstattet den Kirchen einen Großteil der Kosten für ihre Heime und Einrichtungen - und hat ihnen die Selbstkontrolle überlassen." Seit vielen Jahren gebe es Hinweise auf Übergriffe dort. "Da hat auch der Staat versagt." Ihn ärgere, dass die Politik in Berlin hier nicht viel aufmerksamer agiere.

Keupp: Viele Bischöfe wollen Thema aussitzen

Als vorbildlich bezeichnete der Wissenschaftler die Praxis im US-Bundesstaat Pennsylvania. "Dort gibt es einen unabhängigen Beauftragten, dem alle Archive geöffnet werden. Sie haben dort sogar alle Namen von Tätern öffentlich genannt, egal, ob sie noch leben oder tot sind." Die Erforschung in kirchlichen Archiven müsse "unbedingt von unabhängigen Gremien gemacht werden".

Keupp attestierte den Leitungen der beiden großen Kirchen in Deutschland, sie hätten "verstanden, dass sie etwas tun müssen". Er glaube aber, dass viele katholische Bischöfe "das Thema aussitzen wollen". Bei ihrer jüngsten Vollversammlung in Fulda habe er einigen von ihnen angemerkt, "dass sie tief erschüttert sind. Aber die große Mehrheit sitzt da, und man versteht nicht, was hinter ihrer Fassade abläuft".

Die evangelische Kirche habe sich lange im Windschatten bewegt, weil die Medien lange nur die katholische Kirche im Blick gehabt hätten, sagte der Forscher. Nur in der Nordkirche sei bisher glaubhaft versucht worden, alle Übergriffe aufzuarbeiten. Den Zölibat und verklemmte Sexualität als Grund für Missbrauch anzunehmen, überzeuge ihn jedoch nicht. Dabei werde die "Pastoralmacht" ausgeblendet, die als Zugriff auf die Seelen der Menschen verstanden werden könne.

Keupp (75) war Professor für Sozialpsychologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und untersuchte mit seinen Mitarbeitern den Missbrauch im oberbayerischen Kloster Ettal. Demnächst soll seine Studie über die reformpädagogische Odenwaldschule erscheinen. (KNA)