Vor 50 Jahren wurde Hochhuths Skandalstück "Der Stellvertreter" uraufgeführt

Stellvertreterdebatte

Veröffentlicht am 20.02.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Theater

Bonn/Berlin ‐ Ein Skandal liegt in der Luft an jenem Mittwochabend in Berlin. Am 20. Februar 1963 hat im "Theater am Kurfürstendamm" das Theaterstück "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth seine Uraufführung. Zwei Polizisten kontrollieren den Eingangsbereich. Intendant und Regisseur Erwin Piscator bittet das Premierenpublikum per Aushang, "auf Kundgebungen jeglicher Art zu verzichten". Stattdessen bietet er eine öffentliche Diskussion mit dem Autor zu einem späteren Termin an: "Bitte geben Sie uns Ihre Wünsche schriftlich bekannt."

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Die Veranstalter wissen: Mit seiner These, der Vatikan und Papst Pius XII. (1939-1958) hätten während des Judenmordes durch die Nationalsozialisten zu wenig getan, um Menschenleben zu retten, wird der 32-jährige Hochhuth die Öffentlichkeit spalten. Doch der Abend in Berlin verläuft überraschend ruhig. "Es langte nur zu vergleichsweise zaghaftem Buh-Gebrumm und wenigen einsamen Pfiffen", fasst der "Spiegel" damals beinahe enttäuscht zusammen.

Der große Eklat bleibt aus - die Debatte nimmt kurz darauf trotzdem ihren Lauf, befeuert durch die Medien und vielbeachtete Aufführungen in Basel, Paris und New York. Heute, ein halbes Jahrhundert danach, ist die Stimmung entspannter. Als Regisseur Christian Stückl im Januar 2012 seine "Stellvertreter"-Inszenierung erstmals im Münchner Volkstheater aufführte, blieb das Echo erstaunlich gering.

Christliches Trauerspiel

Als einer der Ersten stellte der junge Dramatiker Hochhuth mit seinem "christlichen Trauerspiel" die Rolle der Kirchen während des NS-Regimes auf den Prüfstand. Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der die Frage nach Moral und Schuld angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen neu gestellt wurde.

Der Eichmann-Prozess 1961/62 in Jerusalem sowie die 1963 beginnenden Frankfurter Auschwitz-Prozesse rückten den millionenfachen Mord an den Juden und die Gräuel in den Konzentrationslagern in den Blickpunkt. "Wir können auch uns und unsere Gemeinden nicht ausnehmen von dieser Schuld", hieß es dazu in einer im März 1963 veröffentlichten Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Boden für eine große Debatte war also bereitet.

Rolf Hochhuth (81) zählt zu den bekanntesten deutschen Nachkriegsdramatikern.
Bild: ©

Rolf Hochhuth (81) zählt zu den bekanntesten deutschen Nachkriegsdramatikern.

Allein beim Hamburger Rowohlt-Verlag gingen in den ersten sieben Monaten nach der Uraufführung rund 3.000 Reaktionen ein, Schriftsteller und Journalisten lieferten sich erhitzte Duelle in den Feuilletons der Zeitungen. Und natürlich meldeten sich auch hochrangige Vertreter der beiden großen Kirchen zu Wort. Einige sahen in Hochhuths Stück trotz aller Kritik im Detail eine Chance, über die Vergangenheit ins Gespräch zu kommen. Andere warfen dem Autor vor, den Papst als Sündenbock genutzt zu haben und historische Fakten zu verfälschen.

Herausforderung für Regisseure

Die Debatte über den "Stellvertreter" entwickelte sich schnell zu einer Stellvertreterdebatte, die den eigentlichen Fragen im Umgang mit der NS-Zeit auswich. Schuld daran war auch der Autor selbst. Sein 212 Seiten langes Werk machte sich angreifbar für Kritik: mit vielen Nebenhandlungen, Regieanweisungen in Form von polemischen Kurzporträts und dem für das sogenannte dokumentarische Theater typischen Mix aus Fakten und Fiktion. Eine Herausforderung auch für Regisseure.

Historiker zeichnen inzwischen ein weitaus differenzierteres Bild von Pius XII. und dem Vatikan als Hochhuth selbst. Die eher verhaltenen Äußerungen des Papstes zum Holocaust seien nicht auf Feigheit und Versagen zurückzuführen, meint etwa der Direktor der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte, Karl-Joseph Hummel . Vielmehr habe Pius XII. eine Strategie verfolgt, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht funktioniert hätte. Mit der Maxime "Retten statt Reden" habe er beispielsweise 80 Prozent der römischen Juden vor dem Tod bewahrt. Keine Institution habe mehr Juden gerettet als die katholische Kirche, so Hummel.

Er sieht die Tragik von Pius XII. darin, dass der Völkermord an den europäischen Juden dadurch nicht verhindert worden sei. Er erwartet, dass die bevorstehende Öffnung der vatikanischen Archive für die Kriegsjahre die Diskussion neu entfachen wird.

Von Joachim Heinz (KNA)

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