Strukturreform Erzdiözese Wien: Aus 660 mach 140
Eigentlich geht alles auf einen Ausspruch Benedikts XVI. zurück. Noch recht am Anfang seines Pontifikats war der Papst 2007 in Österreich zu Gast. Am Wallfahrtsort Mariazell gab er den Österreichern einen großen Auftrag mit auf den Weg: "Schreibt die Apostelgeschichte weiter".
Dieser Satz hat Kardinal Christoph Schönborn und dessen Mitarbeiter offensichtlich überzeugt. Denn sie benannten den Diözesanen Entwicklungsprozess der Erzdiözese Wien, der kurz nach dem Papstbesuch startete, nach der Apostelgeschichte: "APG 2.1" heißt das Projekt, das bereits seit über zehn Jahren im Gang ist. Dessen wichtigste Ziele hat Andrea Geiger, Leiterin der bistumseigenen Stabsstelle APG 2.1, schnell umrissen. "Mission First", so lautet die Losung: Vor allem gehe es um einen "Transformationsprozess" der Kirche, also die Frage, welche Mission sie heute habe und wie die Christen die Jüngerschaft Jesu in der Gegenwart leben könnten. Erst dem nachgeordnet sei der zweite Schritt der notwendigen Änderung der kirchlichen Struktur der Erzdiözese, so Geiger.
Aus 660 mach 140
Hört man sich in der Erzdiözese um, so scheinen es aber doch vor allem die Strukturveränderungen zu sein, die die Gläubigen derzeit beschäftigen. Schließlich lassen diese sich im Gegensatz zu dem abstrakten Ziel einer neuen Mission griffig in wenigen Zahlen zusammenfassen. Die Formel lautet: Aus 660 mach 140. Oder, etwas genauer formuliert: Die bisher 660 Pfarreien, in Österreich "Pfarren" genannt, haben sich in 140 neuen Seelsorgeeinheiten, so genannten "Entwicklungsräumen" zusammengefunden, um anschließend Schritt für Schritt in eine verbindliche Struktur zusammenzuwachsen. Bis 2022 sollte dieser Prozess eigentlich bei 80 Prozent der Pfarren abgeschlossen sein, doch zu Beginn dieses Jahres änderten Kardinal Schönborn und sein Team den Zeitplan: Nun soll es auch ausreichen, wenn 80 Prozent der Pfarreien zumindest in sogenannten "Pfarrverbänden" zusammengeschlossen werden, ohne gleich rechtlich eine neue Einheit zu bilden. Den Verbänden steht dann zwar ein gemeinsamer Pfarrer an der Spitze vor, Gremien wie der Pfarrgemeinderat oder Vermögensverwaltungsrat könnten aber auf Ebene der einzelnen (Teil-) Gemeinden erhalten bleiben.
Die Diözesanleitung habe "Tempo aus dem Prozess herausgenommen", da es in der Diözese große Ungleichzeitigkeiten gebe, erklärt Andrea Geiger — zwischen der Großstadt Wien und dem ländlich geprägten Teil der Erzdiözese etwa, sowie zwischen Bereichen, in denen die Pfarreien gern zusammenarbeiteten und Orten, wo sich Widerstand rege. Es allen recht zu machen, hat Geiger inzwischen aufgegeben: "Was den einen zu schnell geht, geht anderen zu langsam und umgekehrt", sagt sie. Flankierend zu dem neuen Zeitplan hat die Bistumsleitung auch eine verstärkte Kommunikations- und Informationsinitiative angekündigt, um den Reformprozess besser zu erklären.
Selbst nie in kleinen Pfarreien tätig
Aus Sicht von Helga Zawrel ist das auch dringend nötig. Sie war bis Mitte Mai die stellvertretende Vorsitzende des Vikariatsrates "Unter dem Manhartsberg", der Laienvertretung der nördlichsten von drei großen Einheiten, in die das Erzbistum Wien unterteilt ist. Insgesamt 27 Jahre war Zawrel in der diözesanen Laienarbeit engagiert. Dass sie mit der Art und Weise, wie der Bistumsprozess angegangen wurde, nicht zufrieden ist, daraus macht sie keinen Hehl: "Mindestens zu Beginn waren die Laien und auch die Priester hier vor Ort nicht ausreichend mit ins Boot genommen." Es habe zwar Informationen gegeben. Wirklich mitzuentscheiden, sei aber nicht möglich gewesen. Die Gruppe der Prozessverantwortlichen des Bistums hätte sich zu selten die Mühe gemacht, sich vor Ort über die Situation im ländlichen Bereich im Norden und Süden Wiens zu informieren. Einige derjenigen, die jetzt die Reform gestalteten, seien selbst nie in kleinen Pfarreien tätig gewesen. Gerade in der ländlich geprägten Gegend, wo die nächste Kirche in der Regel deutlich weiter entfernt sei als in der Stadt, hingen die Menschen nun mal an ihren Gemeinden, an der buchstäblichen Kirche im Dorf.
Gute Ansätze, die schon vorhanden gewesen seien, hätten die Verantwortlichen des Diözesanprozesses nicht immer gesehen: So hätten im Wiener Norden schon früh Pfarreien informell in Pfarrverbänden zusammengearbeitet. Nicht alles, was schon existiert habe, sei automatisch schlecht, meint Zawrel: "Wir hatten hier auch früher schon Bibelkreise. Warum die jetzt unbedingt durch den Alpha-Kurs ersetzt oder umbenannt werden müssen, erschließt sich mir nicht." Und auch die Zeit ist für Zawrel ein wichtiger Faktor: "Es dauert nunmal, bis die Menschen solch tiefgreifende Veränderungen annehmen können", sagt sie. "Das Tempo, das unser Herr Kardinal zunächst vorgegeben hat, war jedenfalls viel zu schnell."
Doch es gibt auch positivere Stimmen zum Diözesanen Entwicklungsprozess. In der Großstadt Wien kommt er deutlich besser an als auf dem Land. Mancherorts funktioniere das Konzept recht gut, sagt Irmengard Thanhoffer, die stellvertretende Vorsitzende des Vikariatsrates Wien Stadt. Aus ihrer Sicht hängt der Erfolg des Strukturprozesses auch davon ab, ob es vor Ort in Person des Pfarrers ein Zugpferd gibt, das den Prozess positiv angeht und Menschen in der Gemeinde vermittelt, dass sie dadurch auch gewinnen können. Zwar sei die Bistumsleitung den Reformprozess zunächst "möglicherweise etwas unprofessionell" angegangen. Kardinal Schönborn, der Anfang des kommenden Jahres 75 Jahre alt wird und Papst Franziskus dann seinen Rücktritt anbieten muss, habe sich wohl erhofft, die Reform bis dahin abgeschlossen zu haben. "Doch inzwischen hat er eingesehen, dass sich das nicht ausgeht". Und andersherum hätten in vielen Gemeinden auch die Menschen inzwischen eingesehen, dass eine strukturelle Veränderung unumgehbar sei. "Die Seniorengruppe funktioniert vielleicht hier gut, die Jugendgruppe dafür in der Nachbargemeinde mit einem engagierten Jugendseelsorger", illustriert Thanhoffer.
„Früher kamen wir uns manchmal schon ein wenig vor wie Bittsteller, heute sind wir in einem echten Dialog mit dem Erzbischof und Generalvikar.“
Ein positiv besetztes Schlagwort ist der Begriff "APG 2.1" auch für Walter Rijs. Der 70-jährige ist der Präsident der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien, einer Art Dachverband der katholischen Verbände. Er hat in den vergangenen Jahren bei der Diözesanleitung einen Bewusstseinswandel beobachtet: "Wir fühlen uns in unseren Anliegen jetzt ernst genommen. Früher kamen wir uns manchmal schon ein wenig vor wie Bittsteller, heute sind wir in einem echten Dialog mit dem Erzbischof und Generalvikar". Und dieser Prozess sei durch regelmäßige Treffen auch strukturell abgesichert. Parallel zum diözesanen Strukturprozess, so Rijs, sei in den vergangenen Jahren auch das Erzbischöfliche Ordinariat als Verwaltung der Diözese neu geordnet worden. Es gebe jetzt flachere Hierarchien – und damit auch dort ein verändertes Selbstverständnis, das es leichter mache, sich Gehör zu verschaffen. Rijs weiß jedoch auch, wie wichtig vielen Gläubigen die Kirche vor Ort ist: "Die Gemeinden sind wie die Tankstellen, aus denen die Gläubigen Kraft schöpfen – auch für ihr Engagement in der Diözese. So ist das auch bei mir."
Was den inhaltlichen Transformationsprozess jenseits der Struktur angeht, gibt es von den Laien einen ganzen Strauß von Vorschlägen und Wünschen: Das Priesterbild etwa müsse sich verändern, meint Irmengard Thanhoffer, weg von einer theologischen Überhöhung hin zu einem echten, gleichberechtigen Miteinander mit den Laien. Und Helga Zawrel wünscht sich, dass die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt gelockert und künftig auch Frauen zu Diakoninnen oder gar Priesterinnen geweiht werden können.
Teamarbeit ist die Zukunft
Die Bistumsleitung ist da noch etwas zurückhaltender: Im Rahmen von "APG 2.1" bietet sie verschiedene Projekt an, die den Gemeinden Hilfestellung geben sollen, die Stichworte "Mission" und "Jüngerschaft" konkret umzusetzen. Dazu gehören Glaubenskurse und Jüngerschaftsschulen, aber auch Ideen für missionarische Straßenaktionen oder eben der Alphakurs und weitere Glaubenskurse. Andrea Geiger erklärt die Intention: "Früher waren für viele Menschen in Österreich Geburt und Taufe sozusagen ein Vorgang. Heute bleiben die Menschen, wenn und weil sie selber Kirche sind, wenn sie die Erfahrung machen, dass das für ihr Leben wirklich hilfreich ist, wenn die Liebe Gottes und die Freude über den Glauben für sie erfahrbar wird". Auch den Glauben mit anderen teilen zu können, sei ein wichtiger Aspekt.
In einem sind sich aber alle einig: Die Seelsorge in den Gemeinden muss künftig als Teamarbeit zwischen Priestern und Ehrenamtlichen, zwischen Geweihten und Laien, zwischen Frauen und Männern begriffen werden – nur dann können die Pfarreien noch weiter funktionieren. Und schon das hieße ja, die Apostelgeschichte ein großes Stück weiterzuschreiben.