Sozialethiker Kurt Remele über die Würde der Tiere

"Vegetarisches Essen ist Christenpflicht"

Veröffentlicht am 01.06.2016 um 14:05 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 
Ethik

Bonn ‐ Unter Katholiken hat sich das Essen von Tieren im Wortsinne eingefleischt. Für den Sozialethiker Kurt Remele ein Skandal. In der Kirche habe der Tierschutz keine Lobby, beklagt er im Interview.

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Frage: Herr Remele, gibt es in Zeiten von Flüchtlingskrise und weltweiten Hungersnöten nicht wichtigere Themen als die Würde des Tieres?

Remele: Natürlich kann man sagen, wenn Menschen im Meer ertrinken, ist das wichtiger als Tierschutz. Aber wir dürfen das Leid der einen nicht gegen das Leid der anderen ausspielen. Wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato si" beschrieben hat, sind alle Lebewesen voneinander abhängig. Wenn wir Tiere grausam behandeln, schlägt das auch auf uns Menschen zurück.

Frage: Wie steht es weltweit um die Würde der Tiere?

Remele: Die nahezu auf der ganzen Erde verbreitete Massentierhaltung ist unmoralisch und unverständlich. Ich frage mich, wie wir mit leidensfähigen Geschöpfen so umgehen können. Und die Tierhaltung ist nur eins von vielen Beispielen: Auch Tierexperimente in Forschung und Medizin, der Missbrauch an Haustieren, Stierkampf und bestimmte Formen der Jagd verletzen die Würde der Tiere.     

Kurt Remele im Porträt
Bild: ©Der Sonntag/Kärntner Kirchenzeitung

Professor Kurt Remele lehrt Ethik und christliche Gesellschaftslehre an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz.

Frage: Inwieweit ist Ihr Buch inspiriert von der Umweltenzyklika des Papstes?

Remele: Ich beschäftige mich schon seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Tierethik. Da war aus Rom noch wenig Positives dazu zu hören. Papst Franziskus und "Laudato si" haben dem Thema eine neue Dringlichkeit und Legitimation gegeben. Ohne, dass ich für jede meiner Forderungen die Autorität des Papst beanspruche oder brauche: Das, was mein Buch ausbuchstabiert, ist jetzt vom höchsten kirchlichen Lehramt gedeckt. Der Papst hat neue Wege für eine theologische Tierethik eröffnet.

Frage: Hat die christliche Ethik in Bezug auf die Würde des Tieres so etwas wie einen "blinden Fleck"? 

Remele: Ja, das kann man so sagen. Es gibt zwar schon im Alten Testament  tierfreundliche Stellen. Die Ernährung im Paradies – so ist es am Anfang des Buches Genesis beschrieben – war vegan. Leider hat sich in der Kirchengeschichte aber eine biblische Lesart durchgesetzt, die den Bibelsatz "Macht Euch die Erde untertan" als Unterwerfungsauftrag interpretierte und folglich in Tieren nichts anderes als Gebrauchsgegenstände für den Menschen sah. Das Christentum ist durch Tiervergessenheit gekennzeichnet: Lange hat sich die christliche Ethik fast ausschließlich für den Menschen interessiert. Erst als die Philosophie Mitte der 1970er Jahre die Tierethik entdeckte, haben  Tiere auch Eingang in die Theologie gefunden, zunächst vor allem im anglo-amerikanischen Raum.

Frage: Sie sprechen in ihrem Buch von einem "vegetarisch-veganen Imperativ". Müssen denn aus Ihrer Sicht alle Christen Vegetarier werden?

Remele: Man sollte das den Leuten nicht durch ein Kirchengebot vorschreiben. Aber ich bin schon der Meinung, dass es eigentlich Christenpflicht ist. Es ist ethisch besser, sich vegetarisch oder sogar vegan zu ernähren. Nicht nur das Quälen, auch das Töten von Tieren ist falsch, wenn ich mich auch auf anderem Wege gut und gesund ernähren kann.

Linktipp: Die Sorge für das gemeinsame Haus

Jetzt ist sie da: "Laudato si", die Umweltenzyklika des Papstes. Darin entwickelt Franziskus eine ganzheitliche Ökologie, die sich nicht nur auf den Klimaschutz beschränkt. Klicken Sie sich bei uns durch die Zusammenfassung der einzelnen Kapitel.

Frage: Aber der Mensch ist doch nun mal auch ein Fleischfresser…

Remele: Für manche Tiere wie Löwen oder Katzen ist es aufgrund ihrer natürlichen Konstitution, andere Tiere zu töten, um das Überleben zu sichern. Das gilt aber nicht für den Menschen. Er kann frei entscheiden. Ich kann mich wie ein Gorilla ernähren, der nur Pflanzen isst oder wie ein Löwe.

Frage: Sollte man also Menschen und Tiere ethisch auf eine Stufe stellen?

Remele: Nein. Aber, um es mal in der Begrifflichkeit moderner Unternehmen auszudrücken: Die Hierarchien müssen wesentlich flacher werden. Wir sind bisher von einer Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ausgegangen, die den naturwissenschaftlichen Befunden heute gar nicht mehr entspricht. Natürlich haben die Menschen erkenntnistheoretisch einen Vorsprung, den man als Vernunft bezeichnen kann. Aber diese Fähigkeit darf nicht dazu führen, dass wir andere Lebewesen unterdrücken. Im Unterschied zum Tier hat der Mensch die Fähigkeit, eine Ethik zu konzipieren und sollte diese Möglichkeit auch verantwortungsvoll nutzen.

Frage: Wie sieht es auf der praktischen Ebene aus – ist das Essen, das in katholischen Einrichtungen angeboten wird, ethisch vertretbar? 

Remele: Das Ziel müsste ein vegetarisches oder veganes Angebot sein. Aber mir ist bewusst, dass sich im katholischen oder christlichen Milieu, wo sich das Essen von Tieren im wahrsten Sinne des Wortes eingefleischt hat, nicht von heute auf morgen etwas ändert. Es gibt viel Widerstand. Immerhin bieten einige Einrichtungen zunehmend eine vegetarische Alternative an. Ein weiterer Schritt wäre es, in Akademien, Bildungshäusern, Pfarrhäusern und Priesterseminaren nur noch Fleisch aus artgerechter Tierhaltung zu verarbeiten, also Biofleisch. Heute kommen in Deutschland und Österreich nur zwei Prozent des gesamten Fleischkonsums aus ökologischer Tierhaltung. Das ist leider auch in den kirchlichen Häusern nicht anders.

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Video: © KIP TV

Menschlich zum Tier – Vom Umgang mit unseren Mitgeschöpfen. Folge des Magazins "Alpha & Omega – Kirche im Gespräch" (Archivvideo).

Frage: Muss sich die Kirche politisch stärker für den Tierschutz einsetzen und etwa strengere Tierschutzgesetze oder höhere Steuern auf Fleisch fordern?

Remele: Ja, das wäre auch eine Aufgabe von Bischöfen. Aber ich habe da keine große Hoffnung. Ich kenne genügend Oberhirten, um sagen zu können, dass ihnen der Tierschutz kein vorrangiges Anliegen ist. Aber mir ist es ein Anliegen. Und auch eine zunehmend größere Schar von evangelischen und katholischen Theologen beginnen, sich für das Thema zu interessieren. Hinzu kommen weitere Hoffnungsschimmer: So kritisiert etwa Desmond Tutu, der südafrikanischen Erzbischof und Friedensnobelpreisträger, sehr vehement, dass sich Christen nicht ausreichend um Tierschutz kümmern.

Frage: Warum hat der Tierschutz in der katholischen Kirche offensichtlich keine Lobby?

Remele: Das Christentum ist in seiner Geschichte sehr menschenzentriert. Schon Augustinus und Thomas von Aquin haben die Lehre vertreten, dass Tiere nicht vernünftig und deswegen nicht Gegenstand der Moral sind. Wir hätten ihnen gegenüber keine Pflichten. Inzwischen nimmt man zur Kenntnis, dass auch diese Wesen Gefühle wie Schmerz und Freude empfinden. Das ist das Entscheidende, nicht, ob Tiere denken, schreiben oder sprechen wir.

Frage: Trotzdem scheint das Thema etwa bei den Deutschen Bischöfen nicht sehr hoch im Kurs zu stehen…

Remele: Ich habe in den 1990gern zwei Jahre am katholischen Sozialinstitut in Dortmund gearbeitet. Direktor war damals der spätere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Während andere Theologen zu dieser Zeit wenig Verständnis dafür hatten, dass ich mich vegetarisch ernährte, hat er es akzeptiert. Gleichwohl glaube ich, dass ihm der Gedanke, auch so zu leben, sehr fern ist.

Zur Person

Vor 25 Jahren hat Kurt Remele ein Meditationswochenende von buddhistischen Mönchen besucht, die sich vegetarisch ernährten. Seine Neugier war geweckt und er begann zu forschen, wie die Tradition der katholischen Kirche zur Würde des Tieres und zum fleischlosen Essen steht. Seitdem sind Remele und (ein Teil) seiner Familie überzeugte Vegetarier, seit einigen Monaten ernähren sie sich sogar vegan. Der 59-Jährige ist Professor für Ethik und christliche Gesellschaftslehre an der Universität Graz. Sein Buch "Die Würde des Tieres ist unantastbar – Eine neue christliche Tierethik" ist bei Butzon & Bercker erschienen, umfasst 231 Seiten und kostet 19.95 Euro.
Von Gabriele Höfling