Wie der Brexit den Nordirland-Konflikt neu entfachen könnte
Kann es so etwas wie "Friedenswände" geben? Noch heute werden an den sogenannten Peace Walls von Belfast am Abend die Tore geschlossen, um katholische und protestantische Problemviertel voneinander zu trennen. Und noch immer gibt es die martialischen Malereien an Privathäusern, die in leuchtenden Farben die vermeintlichen Märtyrer des Bürgerkriegs und ihre Waffen verherrlichen.
Seit dem sogenannten Karfreitagsabkommen von Belfast vor gut 20 Jahren herrscht zwar endlich Frieden in Nordirland. Doch es ist nicht für alle Frieden, nur für die meisten. In manchen lebt der Hass von damals fort; und nicht wenige befürchten, dass der EU-Austritt Großbritanniens die zerbrechliche soziale Aussöhnung gefährden könnte und die Konturen der Verwerfungen von damals wieder deutlicher zutage treten. Die Nordirland-Frage ist der politisch heikelste Aspekt des Brexit. Wo verläuft künftig die EU-Außengrenze? Und gehen alle den am Ende gewählten Weg mit?
Vor 50 Jahren, zwischen dem 12. und 14. August 1969, nahm das Blutvergießen im Nordirland-Konflikt Fahrt auf. Natürlich: Die Ursache des Konflikts liegt viel weiter zurück. Im Hochmittelalter drangen die Normannen aus England bis auf die irische Insel vor; seit Anfang des 17. Jahrhunderts siedelten protestantische Engländer und Schotten in der Provinz Ulster im Nordosten Irlands; und 1801 wurde Irland gar komplett der englischen Krone unterworfen.
Das 20. Jahrhundert stand dann ganz im Zeichen des Widerstands und des Partisanenkriegs: Osteraufstand 1916, Bürgerkrieg, ab 1948 eine unabhängige Republik Irland – wobei der Nordosten unter englischer Kuratel blieb, als Teil des "Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland". Die irische Republik pochte stets auf eine Herausgabe des Nordens – in dessen ländlichen und ärmeren Regionen die katholischen Iren in der Mehrheit waren. In den Städten sorgte die Baupolitik der Protestanten dafür, dass katholische Gruppierungen in ihren Wahlkreisen keine politischen Mehrheiten erreichen konnten.
Der Konflikt wird blutig und brutal
Seit 1966, als militante protestantische Aktivisten durch Attentate katholische Ressentiments gegen die behördliche Diskriminierung anheizten, wurde der Konflikt blutig und brutal. Im Oktober 1968 gingen katholische Gruppen und Bürgerrechtsbewegungen erstmals auf die Straße. Ihre Demonstrationen wurden verboten. Als die sich dem Verbot widersetzten, wurden sie von der Polizei niedergeknüppelt. Die Wut weitete sich aus.
Zwischen dem 12. und 14. August 1969 kam es erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als Protestanten das katholische Viertel Bogside am Stadtrand von Derry stürmten. Der Polizei Nordirlands - Royal Ulster Constabulary (RUC) – gelang es drei Tage lang nicht, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Dann schlug die britische Armee den Aufstand gewaltsam nieder.
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Die Iren sind vom Brexit besonders betroffen – doch das irische Volk war von der Debatte über die Gestaltung des britischen EU-Austritts ausgeschlossen, befürchtet der Erzbischof von Armagh – und sieht den Frieden im Norden der Insel in Gefahr.In der Folge gab es in ganz Nordirland weitere Aufstände und Straßenschlachten. Acht Menschen wurden erschossen, mehr als 130 weitere verletzt. Protestantische Loyalisten setzten Häuser in republikanisch-katholischen Gegenden in Brand. Gewalt der "Irisch-Republikanischen Armee" (IRA) wurde mit Gegengewalt und Vergeltung beantwortet. Die britische Armee, zur Beruhigung der Lage herbeigerufen, verlor ihre anfängliche Neutralität und wurde selbst Partei. Der Begriff der "Troubles" war geboren.
Nach dem "Blutsonntag" (Bloody Sunday), als im Januar 1972 in Derry 13 unbewaffnete Demonstranten von englischen Fallschirmjägern erschossen wurden, eskalierte die Lage weiter. London übernahm die Kontrolle und entmachtete das nordirische Parlament. Nordiren beider Seiten fühlten sich von der jeweiligen Heimatfront zu wenig unterstützt. Milizen radikalisierten und spalteten sich; Spitzelsysteme wurden etabliert. Die Situation wurde vollends unübersichtlich.
Rund 3.500 Opfer
Rund 3.500 Menschen starben im Nordirland-Konflikt, etwa die Hälfte davon Zivilisten. Dabei war es nur eine kleine Minderheit von Aktivisten, die den bewaffneten Kampf befürwortete und tatsächlich betrieb. Doch die Spaltung der Gesellschaft wurde begünstigt durch das streng konfessionelle Schulsystem im Land, auf dem die jeweiligen Kirchenleitungen bestanden hatten. Es gab – und gibt bis heute – Viertel in der Hauptstadt Belfast, in denen fast ausschließlich Katholiken oder Protestanten wohnen.
Erst im Karfreitagsabkommen vom April 1998, in Belfast von Irland, Großbritannien und den wichtigsten nordirischen Konfliktparteien besiegelt, gelang der Befreiungsschlag zum Frieden. Dublin schwor einer Wiedervereinigung Irlands ab. Im Gegenzug erklärte sich London bereit, die republikanische Partei Sinn Fein stärker an der Verwaltung Nordirlands zu beteiligen und die Polizei zu reformieren.
Der Konflikt zwischen Nationalisten und Unionisten, zwischen Katholiken und Protestanten schwelt bis heute weiter. Der katholische Bevölkerungsanteil ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen. Schätzungen zufolge könnten Katholiken schon bald wieder die Bevölkerungsmehrheit in Nordirland stellen. Es gibt Rückschläge, unversöhnliche Haltungen, schwierige Regierungsbildungen, vereinzelt sogar Bombenexplosionen. Doch zumindest bis zum Brexit hat das Karfreitagsabkommen von 1998 den Frieden gewährleisten können.
Noel Treanor, Bischof von Down und Connor mit Sitz in Belfast, hat so seine Befürchtungen. "Noch vor gut 20 Jahren hatten wir an den Grenzen die britische Armee, befestigte Checkpoints, Polizeifahrzeuge. Heute fahren alle in völliger Ruhe über eine unsichtbare Grenze." Doch, so der Vizepräsident der EU-Bischofskommission COMECE: "Sobald wir hier wieder Grenzen mit einer Art Infrastruktur bekommen, wird das fast sicher irgendwelche gewaltsamen Reaktionen hervorrufen, leider." Es gebe Menschen, die solche Grenzposten als Bedrohung betrachteten – und als Ziel. "Und sobald sie die Grenzen attackieren, wird es zu weiteren Schutzmaßnahmen und zu mehr Polizeipräsenz kommen." Kurz: Die Spirale der Gewalt könnte sich von neuem zu drehen beginnen.