Wijlens: Aus deutscher Perspektive vor Überheblichkeit hüten
Beim viertägigen Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan wollen die 190 Teilnehmer – darunter rund 140 Vorsitzende aller nationalen Bischofskonferenzen – über die zahlreichen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sprechen und mögliche Konsequenzen diskutieren. Im katholisch.de-Interview äußert sich Myriam Wijlens, Professorin für Kirchenrecht an der Universität Erfurt und seit einem Jahr Mitglied in der Päpstlichen Kinderschutzkommission, über ihre Erwartungen an den Gipfel und mögliche Ergebnisse des Treffens. Außerdem spricht sie über den unterschiedlichen Umgang mit Missbrauch in der Weltkirche und die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität gibt.
Frage: Frau Professorin Wijlens, der Gipfel im Vatikan ist das erste Bischofstreffen auf weltkirchlicher Ebene, das sich mit dem sexuellen Missbrauch in der Kirche beschäftigt. Wie wichtig ist dieses Signal?
Wijlens: Das ist natürlich ein sehr wichtiges Signal. Die Kirche macht mit dem Gipfel endgültig klar, dass sexueller Missbrauch nicht nur ein Problem einzelner Ortskirchen ist, sondern die katholische Weltkirche als Ganzes betrifft. Das Treffen im Vatikan eröffnet zum ersten Mal eine globale Perspektive auf die Dimensionen des Missbrauchs in der Kirche, und es ermöglicht den Vertretern der einzelnen Ortskirchen, miteinander ins Gespräch zu kommen und im Kampf gegen den Missbrauch voneinander zu lernen.
Frage: Die Ortskirchen gehen mit Missbrauch in ihren Reihen teilweise sehr unterschiedlich um. Während in manchen Ländern bei Aufarbeitung und Prävention bereits große Fortschritte erzielt wurden, hinken andere Länder deutlich hinterher. Angesichts dieser globalen Unterschiede: Was kann das Treffen im Vatikan bewirken?
Wijlens: Wie ich schon sagte: Das Treffen kann und muss allen Verantwortlichen in der Kirche ein für alle Mal klar machen, dass der sexuelle Missbrauch eine Herausforderung für die ganze Kirche ist. Es darf uns nicht egal sein, wenn irgendwo auf der Welt neue Missbrauchsfälle bekannt werden. Wo auch immer der Missbrauch stattfindet, er betrifft Menschen, die Mitarbeitern und Priestern der Kirche vertraut haben und deswegen berührt dies immer die Glaubwürdigkeit der ganzen Kirche. Aus diesem Grund braucht es ein klares Signal, dass die Kirche entschlossen gegen den Missbrauch vorgeht. Klar ist aber auch: Die verschiedenen Ortskirchen sind im Kampf gegen den Missbrauch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Wir müssen abwarten, wie sich das auf den Gipfel auswirkt. Gerade aus deutscher Perspektive sollte man sich aber vor Überheblichkeit hüten: Als im Jahr 2002 die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche vor allem in der USA bekannt wurden, haben mir deutsche Kirchenvertreter noch gesagt, dass dies in Deutschland so nicht vorkommen würde. Spätestens seit 2010 wissen wir, dass das nicht stimmte. Inzwischen hat sich hierzulande viel getan. Dennoch gibt es andere Länder, die bei der Aufarbeitung und den zu ziehenden Konsequenzen bereits weiter sind.
„Dass Afrika und Asien in Sachen Missbrauch weiße Flecken wären, ist nicht ganz richtig.“
Frage: Die Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Jahren bekannt geworden sind, betrafen fast ausschließlich Ortskirchen in Europa, Lateinamerika und Nordamerika. Aus Afrika und Asien hört man zu diesem Thema dagegen fast nichts. Mit Blick auf den Gipfel lässt das nichts Gutes erahnen. Wird das Problem des sexuellen Missbrauchs in der afrikanischen und asiatischen Kirche nicht entschlossen genug angegangen?
Wijlens: Dass Afrika und Asien in Sachen Missbrauch weiße Flecken wären, ist nicht ganz richtig. Die Sensibilität für dieses Thema ist in den vergangenen Jahren auf beiden Kontinenten erkennbar gewachsen. Und zur Erinnerung: Auch in Amerika und Europa hat die Kirche viele Jahre gebraucht, um sich der Problematik des sexuellen Missbrauchs zu stellen. Wir sollten also nicht von oben herab auf die Kirche in anderen Teilen der Welt blicken, sondern überlegen, was dort jeweils benötigt wird, um bei der Auseinandersetzung mit dem Missbrauch weitere Fortschritte zu erzielen. Aus meiner Mitarbeit in der Kinderschutzkommission weiß ich zudem, dass es in Afrika und Asien einige sehr fortschrittliche Projekte gibt, die bei der Aufarbeitung teilweise deutlich weitergehen als das, was wir aus Amerika und Europa kennen. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Unsere Kommission begleitet ein Pilotprojekt der Sambischen Bischofskonferenz, bei dem Missbrauchsopfer sich als Gruppe zusammenschließen, von der Bischofskonferenz unterstützt und bei der Aufarbeitung direkt beteiligt werden. Das ist ein großer Fortschritt! In Deutschland zum Beispiel gibt es so etwas noch nicht.
Frage: Sollte sich der Gipfel im Kampf gegen den Missbrauch auf globale Lösungen verständigen? Oder sollte angesichts der unterschiedlichen Geschwindigkeiten der verschiedenen Ortskirchen jedes Land eigene Regeln erarbeiten?
Wijlens: Das wird sich auf dem Gipfel zeigen müssen. Ich glaube aber, dass dezentrale Regelungen in vielen Fällen die bessere Lösung sind – weil das staatliche Strafrecht in den Ländern teilweise sehr unterschiedlich ist und man andererseits auch die gesellschaftliche Dimension im Umgang mit Missbrauch berücksichtigen muss. Das sehen wir auch in Europa: Obwohl die Europäer sich gesellschaftlich und kulturell sehr ähnlich sind, gehen die Ortskirchen auch hier im Kampf gegen den Missbrauch teilweise sehr verschieden vor. Hinzu kommt, dass die zivile Gesetzgebung und das Verhältnis von Staat und Kirche weltweit sehr unterschiedlich geregelt sind. So kennen Irland und Australien eine Meldepflicht und keine Verjährung; außerdem wird das Beichtgeheimnis dort staatlich nicht mehr geschützt. Das ist in Deutschland anders. Solche Unterschiede haben natürlich Auswirkungen auf die Frage, wie man in den einzelnen Ländern mit Missbrauchsfällen umgeht.
Frage: Welche Erwartungen haben Sie denn persönlich an den Gipfel? Was sollte bei dem Treffen am Ende rauskommen?
Wijlens: Der Gipfel darf sich nicht darauf beschränken, den sexuellen Missbrauch in der Kirche nur zu verurteilen. Das wäre eindeutig zu wenig. Ich erhoffe mir, dass klar wird, dass der Schutz der Kirche immer voraussetzt, dass man Minderjährige schützt. Mir wäre weiterhin wichtig, dass auch über Verantwortung gesprochen wird. Wie geht die Kirche etwa mit Bischöfen und Ordensoberen um, die Missbrauchstäter gedeckt oder an einen anderen Ort versetzt haben? Welche Verantwortung müssen sie dafür übernehmen? In vielen Fällen hätten Bischöfe und Ordensobere weitere Taten verhindern können, wenn sie das geltende staatliche wie auch das kirchliche Recht angewandt hätten. Auch nach dem Kirchenrecht kann fahrlässiges Handeln durch Leitungspersonen ein Grund für eine Amtsenthebung sein. Und als letzten Punkt: Heute gibt es zwar Richtlinien, wie die Kirche auf Beschuldigungen reagieren muss. Es muss aber die Frage gestellt werden, inwiefern diese Richtlinien auch konsequent angewandt werden. Und es muss geklärt werden, wie das regelmäßig überprüft werden kann.
Frage: Was erhoffen Sie sich noch?
Wijlens: Es muss auf dem Gipfel auch darüber diskutiert werden, wie die Kirche künftig ihren Priesternachwuchs auswählt und welche Kriterien ein Geistlicher erfüllen muss, damit er für ein bischöfliches Amt in Frage kommt. Wie kann es beispielsweise sein, dass jemand wie der frühere Kardinal und Washingtoner Erzbischof Theodore McCarrick, der inzwischen aus dem Klerikerstand entlassen wurde, so weit in der Hierarchie aufsteigen konnte, obwohl doch angeblich lange bekannt war, dass er zumindest ein übergriffiges Verhalten hatte?
„Zu Kardinal Müller möchte ich mich nicht äußern.“
Frage: Deutschland wird bei dem Gipfel von Kardinal Reinhard Marx vertreten. Welchen Ratschlag würden Sie ihm für das Treffen mit auf den Weg geben?
Wijlens: Ich möchte dem Kardinal mitgeben, was ich allen Teilnehmern mitgeben würde. Auch in den Ländern, wo man sich bereits seit Jahren mit dem Missbrauch von Minderjährigen befasst, gibt es in jüngster Zeit die erschreckende Erkenntnis, dass teilweise großflächig vertuscht wurde und sogar Bischöfe Minderjährige missbraucht haben. Subjektiv mag man glauben, sehr weit in der Aufarbeitung vorangekommen zu sein, aber in anderen Ortskirchen hat sich gezeigt, dass sich weiteres Unvorstellbares herausstellen kann. Das kann in jedem Land geschehen. Deswegen sollten alle Teilnehmer des Gipfels mit einer inneren Haltung teilnehmen, auch das Unvorstellbare – sogar wenn es um die eigenen Mitbrüder im Amt geht – zu hören und darauf mit Entschlossenheit zum Wohl der Kinder zu handeln. Es gilt, offen zu sein, dass eigene Handeln als Bischof zu reflektieren, sich darauf ansprechen zu lassen und Verantwortung darüber abzulegen.
Frage: Im Vorfeld des Gipfels wurde von verschiedenen Bischöfen und Kardinälen mehrfach auf einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität hingewiesen; auch Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat sich entsprechend geäußert. Wie beurteilen Sie solche Aussagen?
Wijlens: Zu Kardinal Müller möchte ich mich nicht äußern. Klar ist aber: Wer einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und sexuellem Missbrauch herstellt, macht es sich zu einfach. Die meisten Missbrauchstaten werden immer noch in Familien begangen, und dort sind beileibe nicht nur Jungen betroffen. Die höhere Zahl männlicher Opfer in der Kirche hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Jungen hier – zum Beispiel als Messdiener oder als Bewohner kirchlicher Heime – über Jahrzehnte hinweg präsenter und für Täter damit verfügbarer waren.