Der Kathedralbau brachte Fortschritt – kein verlängertes Mittelalter!
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Einen originellen, aber auch sehr unerleuchteten Beitrag zur Brandkatastrophe von Notre-Dame hat uns am Karfreitag die "Welt" beschert, eine Tageszeitung aus Berlin. Er behandelt die enormen Kosten, den die Kirche durch den mittelalterlichen Bauwahn der gotischen Kathedralen verursacht hat. Dadurch seien andere Investitionen, etwa in Infrastruktur und Bildung, unmöglich geworden. Dadurch habe sich das Mittelalter verlängert.
In aller Kürze: Gotische Großkirchen waren keine von der Kirchenleitung zentral gesteuerten Besetzungen von Marktpositionen, sondern der typisch europäische Ausdruck von Bürgersinn. Ihr Bau, der zweifellos einen großen Ressourcenverbrauch mit sich brachte, führte auch nicht zur Volksverdummung, sondern vielmehr – durch die Entwicklung hochkomplexer Großbaustellen – zu gewaltigen Fortschritten im Bereich Architektur, Technologie und Organisation. Dass die Schulen an diesen Kathedralen die Vorgänger der europäischen Universitäten waren, hat zwar nicht viel mit Gotik zu tun, ist aber auch nicht ganz sachfremd.
Wenngleich also der Bau von Kathedralen das Mittelalter vermutlich nicht verlängert hat, darf man vorsichtig anmerken, dass ein etwas längeres Mittelalter auch ein paar Vorteile gehabt hätte: Hexenverfolgungen, Religionskriege und Absolutismus sind Elemente der Frühen Neuzeit, über die man sich nicht unbedingt freuen muss.
Mittelalterliche Gesellschaften fanden es offenbar in Ordnung, einen erheblichen Anteil ihres Sozialprodukts in Kathedralen zu stecken. Unsere erleuchtete Zeit bevorzugt dagegen Militärausgaben (USA), Kraftfahrzeuge (Deutschland) oder große Propagandafeiern (Nordkorea). Was damit wohl verlängert wird?