Der Dinosaurier will nicht aussterben
Paulus-Maria hieß nicht immer Paulus-Maria. Früher, in seinem alten Leben, war sein Name einfach Stefan. Stefan Tautz. Doch das ist mittlerweile mehr als 25 Jahre her. In der Zwischenzeit hat er viel erlebt. Doch fangen wir vorne an. Geboren wird Paulus-Maria 1968 in der DDR, genauer in der Kreisstadt Pirna, die auch den Beinamen "Tor zur Sächsischen Schweiz" trägt.
Die Familie zählt hier zur Mittelschicht. Als Sohn schlesischer Eltern gehört er aber dennoch zu einer absoluten Minderheit in der Stadt. Denn wie sie und seine drei Geschwister ist auch Paulus-Maria katholisch. "Damals waren vielleicht acht oder zehn der 550 Schüler an meiner Schule katholisch. Und die Hälfte davon waren meine Geschwister und ich", erinnert sich Paulus-Maria. Noch heute, fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, leben in Pirna nur etwa 3 Prozent Katholiken.
Wenn die Pfarrgemeinde zur "Parallelwelt" wird
Die Zeit hat ihn geprägt. Auf der einen Seite sind da die Drangsalierungen. Weil er nicht zur Jugendweihe – dem staatlichen Pendant zu Firmung oder Konfirmation – geht, verwehrt man ihm den Zugang zum Abitur. An der Schule sei er häufig auch gehänselt worden. Aber nicht unbedingt von den Schülern, sondern von den Lehrern. "Das muss man sich einmal vorstellen. Von den Lehrern!", sagt er heute ungläubig.
Doch dann gibt es da auch noch die "Parallelwelt", wie Paulus-Maria es nennt. Eine gute Welt, die Freiräume schafft: die Pfarrgemeinde. Dort verbringt er als Kind den Großteil seiner Freizeit, ist mindestens drei Mal in der Woche dort. Er lernt in dieser Zeit viel über den Glauben und den Umgang mit seinen Mitmenschen. Er liest Bücher, die seine nicht-christlichen Mitschüler nicht einmal vom Namen her kennen. Es seien "Untergrundbücher" gewesen, die die Kapläne rangeschafft hätten. Regelmäßig gibt es von der Pfarrei organisierte Konzerte. Seine Eltern gehören einem Gebetskreis an. Kurzum: "Wir waren also gut katholisch."
Mit 14 folgt dann eine "düstere Phase" – nicht nur in Bezug auf den eigenen Glauben. "Wenn man die Kinderaugen verliert, verliert man sie allem gegenüber", sagt Paulus-Maria. Er habe gesehen, wie schmutzig die Straßen seien und wie baufällig die Häuser. Seine Wut auf den Kommunismus wächst noch einmal. "In dieser Zeit der Unzufriedenheit sind die Franziskaner in mein Leben getreten", erzählt er. Zunächst besuchen sie seine Pfarrei, dann er deren Jugendhaus im 60 Kilometer entfernten Bautzen. "Die Sprache des heiligen Franziskus habe ich verstanden, seine Botschaft der Hoffnung." Er lernt das Stundengebet und den Rosenkranz kennen.
Nach seinem Schulabschluss macht Paulus-Maria eine vierjährige Fachausbildung zum Porzellangestalter in Meißen. Dazu gehört unter anderem ein fast einjähriges Naturstudium. Er lernt, wie man Vögel, Blumen und Knochen zeichnet. Die Nähe zur Natur bringt ihn auch noch einmal den Franziskanern näher. "Ich hab mich in die Franziskaner verguckt. Nein, ich habe mich in Gott verguckt und in die Form, wie er in den Franziskanern sichtbar wird", sagt er. Und er ergänzt, dass Berufung so etwas sei, wie sich zu verlieben. Mit 19 ist Paulus-Maria also verliebt und seine Entscheidung gefallen. Er will Franziskaner werden - lieber früher als später. Also wird er zunächst Kandidat, bringt die Ausbildung aber noch zu Ende und tritt am 1. August 1989 schließlich in Halberstadt in den Orden ein.
Und auf einmal fällt die Mauer
Paulus-Maria ist zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt. Er ist nun endlich Bruder Paulus-Maria. Sein Vater ist stolz. Seine Mutter hat dagegen Angst um seine Zukunft. Sie befürchtet, dass er als einfacher Laienbruder nachher der "Pampel" ist, also – auf gut Deutsch – der Dumme, der nur die niederen Aufgaben erledigt. Damit liegt sie gar nicht so falsch. Als Postulant lernt er zunächst die Gebete kennen und erledigt die Hausarbeiten, zu denen etwa das Putzen, das Holzhacken oder auch die Renovierungsarbeiten im Kloster gehören. Doch Paulus-Maria mag das einfache Leben. Für ihn ist es ein schönes Leben.
Aber schon kurze Zeit später wird auf einmal alles anders. Es kommt zum Mauerfall. Seitdem Paulus-Maria denken kann, haben er und alle um ihn herum das bestehende System kritisiert und sich abgekapselt. Erst in der Pfarrei und dann im Kloster. "Wir waren eingefleischte Anti-Kommunisten", erzählt er. Fast jeden Tag seien die Ordensmänner demonstrieren gegangen. "Wir hatten das Gefühl, durch das Rote Meer gegangen zu sein." Über Nacht war der Spuk dann vorbei. Paulus-Maria bleibt noch zwei Jahre im Noviziatshaus im Eichsfeld und geht 1991 mit einem anderen Novizen in den Westen – nach Attendorn in das katholische Sauerland.
Für Paulus-Maria ist das ein Kulturschock. Statt der kalten Kirche gibt es eine warme Hauskapelle. Statt der morgendlichen eucharistischen Betrachtung steht Zeitung lesen auf dem Programm. Es gibt Hausangestellte, die Sauber machen und kochen. "Das war für mich und einige andere kein Ordensleben mehr." Eine der Anweisungen des Klosters lautete zudem: Nicht im Habit vor die Tür gehen. Die mittelalterliche Ordenstracht würde nicht zum modernen Bild des Ordens und auch nicht in das moderne Stadtbild passen, sagte man den jungen Ordensmännern aus dem Osten. "Das haben wir nicht verstanden. Wir haben in der DDR dafür gelitten, so vor die Tür gehen zu können."
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Viele junge Ordensleute suchen nach Alternativen. Bruder Paulus-Maria wechselt zur Thuringia, der Thüringischen Franziskanerprovinz von der heiligen Elisabeth, und landet schließlich in Freiburg. Hier hat er eigentlich alles, was er sich wünscht. Seine Freude am Zeichnen mündet in einem vierjährigen Kunststudium. Auch kann er im Habit auf die Straße gehen. Der Ordensmann beginnt, in der Gefangenenseelsorge zu arbeiten. Und ihm fällt etwas auf. In Freiburg, einer der wärmsten Großstädte Deutschlands, gibt es zahlreiche Obdachlose. "Das war etwas, das ich aus der DDR nicht kannte. Da gab es die offiziell gar nicht." Was macht er also? Geht nachts auf die Straße, um sie mit Decken und Nahrung zu versorgen, schließt Freundschaften mit einigen von ihnen. "Einer der Obdachlosen hieß Michael Jünger", erinnert er sich. "Ich hoffe, er lebt noch. Mit ihm habe ich sogar ein paar Wallfahrten gemacht."
Doch ein Gedanke lässt ihn auch an seiner neuen Wirkungsstätte nicht los: Es muss doch irgendwo auf der Welt noch das ganz einfache, authentische, franziskanische Leben geben. "Es war die Wehmut nach Brüderlichkeit und Einfachheit", fasst er zusammen. Seine Mitbrüder nennen ihn einen "Franziskaner-Dinosaurier". "Ja, das bin ich vielleicht", sagt er. Aber Paulus-Maria will nicht aussterben. Also steht er eines Tages auf, lässt alles stehen und liegen und geht in den Freiburger Münster. Dort betet er: "Herr, wenn es noch einmal eine neue Heimat für mich gibt, dann musst du sie mir zeigen." Am nächsten Tag ruft ihn seine Schwester an und berichtet von einer Dokumentation, die am Abend im Fernsehen ausgestrahlt werden soll. Es geht um einen recht jungen Orden in den USA: die Franziskaner der Erneuerung.
Die Franziskaner barfuß in der Bronx
Der Orden entstand im April 1987 aus einer kleinen Gruppe von Kapuzinern, die das Apostolat der Armut radikal leben wollten. Die Medien wurden vor allem durch Videos in den sozialen Netzwerken auf sie aufmerksam. Die zeigen die Ordensmänner dabei, wie sie in der New Yorker Bronx Skateboard fahren und Basketball spielen. Vor allem engagieren sie sich aber für Obdachlose, Drogenabhängige und Prostituierte. Erst vor wenigen Tagen wurde der Orden von Papst Franziskus als Institut päpstlichen Rechts anerkannt.
"Die Sendung damals hieß 'Barfuß in der Bronx'", erinnert sich Paulus-Maria. Er sieht sich die Dokumentation an und ist begeistert. Er will die Franziskaner besuchen und schreibt ihnen einen Brief. Nein, er lässt ihn schreiben. Denn der Ordensmann spricht da noch kein Wort Englisch. Eine Antwort erhält er aber vorerst nicht. Dennoch bekommt er Zweifel, ob die Franziskaner in Deutschland auf Dauer das Richtige für ihn sind. Kurz vor seiner Ewigen Profess sucht er das Gespräch mit seinem Provinzial. "Sind in unserem Orden noch Veränderungen und Reformen zu erwarten?", fragt er ihn. Damals sind die meisten seiner Mitbrüder schon weit über 60 Jahre alt. Der Provinzial ist ehrlich und verneint die Frage. Paulus-Maria ist ebenfalls ehrlich. Er sagt: "In ein Altenheim möchte ich nicht eintreten."
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Deshalb steht Bruder Paulus-Maria nach acht Jahren bei den Franziskanern an Ostern 1997 binnen einer Woche auf der Straße. "Meinen Habit abzugeben, war der schlimmste Moment meines Lebens", gesteht er. Der Orden sei seine Heimat gewesen, nicht nur räumlich, sondern auch spirituell. Doch er hat mittlerweile auch eine Antwort von den Franziskanern aus New York erhalten, trifft sich mit dem Ordensgründer, Pater Benedict Groeschel, in Frankreich – und ist beeindruckt. Selten habe er einen so hochbegabten Mann mit solch einer Glaubwürdigkeit getroffen, sagt er.
"Wir müssen dahin, wo es brennt, auf die Straße und in die Städte. Dahin, wo sich das Leben abspielt", zitiert er den Ordensgründer. Doch der schickt ihn erst einmal zurück nach Freiburg und sagt ihm, er solle Englisch lernen. Paulus-Maria wohnt kurzzeitig bei einem querschnittsgelähmten Freund, bettelt bei Bäckereien und erhält ab und an eine warme Mahlzeit in einem Altenheim in der Nähe. Er beendet sein Studium im gleichen Sommer und verlässt Freiburg. "Da hat mich dann ja nichts mehr gehalten." Zwei Jahre lebt er anschließend als Einsiedler in einem Bauwagen im thüringischen Eichsfeld. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als freischaffender Künstler.
Einmal New York - ohne Rückflug
Doch die Franziskaner der Erneuerung lassen ihn nicht los. Anfang 1998 reist er zum ersten Mal in die USA, allerdings nur für einen Besuch. Er ist geschockt: In der Bronx sieht er ausgebrannte Häuser und Autos. "Ich kam mir vor wie in einem Kriegsgebiet." Allerdings halten ihn die ersten Eindrücke nicht davon ab, im Juli 1999 seinen Bauwagen zu verkaufen, um für das Geld noch einmal ein Ticket nach New York zu buchen. Diesmal ohne Rückflug. Dort angekommen lebt er mitten in der Bronx, durchläuft noch einmal Postulat und Noviziat, lernt dabei fleißig Englisch. Er studiert in einem Spätberufenenseminar Theologie und wird 2007 in der St. Patrick’s Cathedral in New York City zum Priester geweiht.
Seine Zeit in den USA sei vor allem eines gewesen, sagt er: Ein Kampf für das Leben. Denn auf einmal war er konfrontiert mit bitterer Armut, mit Einsamkeit, Kriminalität, Bandenkriegen und Prostitution. Gemeinsam mit seinen neuen Ordensbrüdern macht er Hausbesuche bei alten Menschen, die oftmals die einzigen Bewohner bereits verlassender Wohnviertel sind. Wie in Freiburg kümmert er sich um Obdachlose, die er mit Lebensmitteln versorgt. Zudem stehen die Franziskaner Drogensüchtigen während des Entzugs bei. Ein Schwerpunkt bildet die Arbeit mit Prostituierten. Denn hier komme oft alles zusammen: Armut, Perspektivlosigkeit, Drogensucht, Abtreibungen. "Wir haben die Prostituierten ermutigt, ihre Kinder auszutragen", sagt der Franziskanerpater. Denn in der Bronx liege die Abtreibungsquote bei 60 Prozent. Da, wo man Abtreibungen jedoch verhindern könne, habe man die Chance, den Kreislauf zu durchbrechen: "Der Beschützerinstinkt für das Kind erwacht bei den Frauen, sie verzichten auf Drogen, schaffen Ordnung in ihrem Leben." Häufig werden die Franziskaner sogar zu Taufpaten.
Die drei göttlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung bringen die Franziskaner laut Bruder Paulus-Maria in der Bronx in eine neue Reihenfolge: Liebe, Hoffnung, Glaube. Denn man müsse erst einmal viel in die Menschen investieren. Lebensmittel, Zeit, Zuwendung, Vertrauen und eben Liebe. Erhalten würde man dafür meist nichts, weil die Menschen mit ihren eigenen Sorgen und Nöten beschäftigt seien. Doch die Hoffnung, dass sie die Menschen und damit auch die Gesellschaft "erneuern", treibt sie an. "Und vielleicht findet der ein oder andere dann doch noch zum Glauben", sagt Paulus-Maria. In der Bronx, da wo die Gangs nicht einmal Respekt vor einer Polizeiuniform zeigen, haben sich die Ordensmänner Anerkennung erarbeitet. Angst hat er darum zu dieser Zeit nicht. "Die Menschen dort wissen, dass wir ihnen helfen wollen. Der Habit ist also die sicherste Schussweste."
Paulus-Maria erhält von seinem Orden den Status als Missionar. Und was machen Missionare? Sie ziehen weiter. Von der New Yorker Bronx geht es nach fast acht Jahren ins irische Limerick. Erneut arbeitet er mit Kriminellen zusammen und spezialisiert sich unter anderem auf die Männerseelsorge. Fünf Jahre bleibt er in Irland, dann ist er ausgebrannt. Mittlerweile sind wir im Jahr 2012.
Deutschland in Glaubensfragen ein Entwicklungsland
Paulus-Maria überzeugt zu diesem Zeitpunkt seinen Ordensoberen, dass nicht nur China, Haiti, der Sudan oder Ghana einen Franziskaner der Erneuerung brauchen – sondern auch der Osten Deutschlands, seine Heimat. Er kommt zurück und findet hier ganz andere Probleme vor als in der Bronx. Er arbeitet vorerst nicht mehr mit Armen und Drogensüchtigen. Dafür bringt er die Männerseelsorge aus Irland mit. Manchmal kommen bis zu 60 Männer zu seinen Wochenendseminaren. Vor allem will er aber jungen Menschen den christlichen Glauben näherbringen. "In diesem Bereich ist Deutschland ja mittlerweile ein Entwicklungsland", sagt er. Im Rahmen seiner "Ostwindmission" tourt er deshalb durch Ostdeutschland und hält "heilige Stunden" ab. Im Zentrum steht die eucharistische Anbetung, die begleitet wird von Musik, Meditation und Kerzenschein.
Erstmals veranstaltet er im vergangenen Sommer zudem das "Gig-Festival", zu dem mehrere Hundert Jugendliche kommen. Ein Anfang, wie Bruder Paulus findet. "Gig" steht einerseits für eine Live-Musik-Aufführung und soll andererseits die Abkürzung für "Gott ist gut" sein. Unter anderem treten Paddy Kelly mit Band und der US-Rapper Joe Melendrez auf, der den Rosenkranz rappt. Bruder Paulus hofft, dass die Kirche künftig viel mehr Geld in ähnliche Projekte steckt. "Wir müssen in die Jugend investieren. Wir müssen lernen, ihre Sprache zu sprechen, sonst können wir den Laden dicht machen", sagt er. Bruder Paulus bleibt aber optimistisch. Er will nicht aussterben.