Auge um Auge?
Extremsituationen wie diese gehören für Polizisten zum Berufsrisiko. Nicht alle widerstehen im entscheidenden Augenblick dem instinktiven Wunsch, mit gleicher Gewalt zurückzuschlagen. Rund 2.000 Beamte werden jedes Jahr angezeigt. Körperverletzung im Amt lautet die häufigste Anklage. Allein in Berlin gab es im vergangenen Jahr 479 eingeleitete Verfahren. Amnesty International geht von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Für die Polizeibeamten ist der Umgang mit der eigenen, gefühlten menschlichen Unvollkommenheit und dem erwarteten professionellen Anspruch eine ständige Herausforderung.
Polizei darf in Grundrechte eingreifen
Das Gewaltmonopol hat in Deutschland der Staat inne - doch die Polizei hat es auszuführen. Demnach muss ein Polizist Gefahren abwehren, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohen. Er muss außerdem dafür sorgen, dass jeder Bürger ungehindert seine staatsbürgerlichen Rechte ausüben und wahrnehmen kann. Dafür darf die Polizei auch in die Grundrechte Einzelner eingreifen und Zwang anwenden.
Dies führt im polizeilichen Alltag zu großen Spannungen. Egal, ob ein Demonstrant ihm ins Gesicht spuckt, oder er mit einem Fall von häuslicher Gewalt konfrontiert wird - der Beamte muss sich an Recht und Gesetz halten. Das geht nur, wenn er es schafft, Abstand zum Geschehen zu wahren. "Professionelle Distanz und das Verständnis dafür, dass man in der Regel nicht als Person, sondern als Vertreter der Staatsgewalt angegangen wird" seien notwendig und erlernbar, sagt Polizeidirektor Andreas Grosser, der in Münster an der Hochschule der Polizei lehrt.
Erlebtes aufarbeiten
"Wir müssen uns im Klaren sein, dass der Polizist bei seiner Arbeit immer Mensch bleibt und damit fehlbar ist und seine Schwächen hat", meint Detlev Schrör, Führungskräftetrainer bei der Polizei NRW in Selm. Manchmal reicht eine Verkettung unglücklicher Umstände, und ein Polizist wird zum Täter. Das musste auch der Führer einer Hundertschaft erleben: ein erfahrener Polizist, von allen respektiert für seine kluge und bedachte Art. Dennoch - als ein Demonstrant ihn beschimpft und provoziert, schlägt er zu. Die Tat wird gefilmt, der Beamte wird angezeigt und bestraft. Dass er kurz zuvor seine Frau verloren hatte und hohem Druck auf der Dienststelle ausgesetzt war, wurde berücksichtigt und macht die Tat verständlicher. Doch ändert dies nichts am falschen Verhalten.
Rechtswidrige Polizeigewalt könnte in vielen Fällen verhindert werden, sagt Alexander Bosch von Amnesty International. Eine wichtige Präventionsmaßnahme sei die unter anderem in Berlin geltende Kennzeichnungspflicht für Beamte. "Polizisten handeln in der Anonymität anders. Können sie klar identifiziert werden, ist das eine Hemmschwelle für Gewalt", so Bosch.
Er arbeitet ehrenamtlich in der Kommission für Polizeirecherche, die sich systematisch mit Übergriffen von Sicherheitsbeamten befasst. Überarbeitung führe oft dazu, dass Polizisten überreagieren. Regelmäßiger Wechsel und Supervision seien daher unabdingbar. Aber auch Menschenrechtstraining müsste einen höheren Stellenwert bekommen, fordert der Sozialwissenschaftler. "Polizisten dürfen auch Mensch sein, aber man muss Mechanismen und Orte finden, wo sie das Erlebte aufarbeiten können", meint Bosch.
"Ethikraum" für Sorgen und Ängste der Polizisten
Ein solcher Ort ist der "Ethikraum Grenzgang" im westfälischen Selm. Drei Seminarräume laden mit Schautafeln, Gegenständen und Medien ein, über Situationen zu sprechen, die als besonders herausfordernd und belastend empfunden wurden. Die Polizisten dürfen hier ihre Sorgen und Ängste zum Ausdruck bringen. Der katholische Polizeiseelsorger und Ethikdozent Michael Arnemann hat mit seiner evangelischen Kollegin Pia Winkler und mehreren Polizeibeamten den "Ethikraum" konzipiert.
Die größten Herausforderungen des Polizeialltags sind nach Erfahrung der Seelsorger der Umgang mit Gewalt, das Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen und Extremsituationen wie Amokläufe; insbesondere aber der Umgang mit Sterbenden und Toten. Im "Grenzgang" haben sie all diese Themen aufgearbeitet. Er soll Beamten helfen, ihre eigenen Erfahrungen im Berufsalltag zu hinterfragen und zu reflektieren.
„Man kann auch als Polizist sein Christsein leben, aber man muss sicher gegen den Strom schwimmen“
Die größte Angst vieler Polizisten ist, im Ernstfall die Waffe gebrauchen zu müssen, berichten die Seelsorger. Im schlimmsten Fall bleibt es ein Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann. "Auch wenn es rechtlich in Ordnung war: Die möglichen Schuldgefühle, dass man ein Menschenleben genommen hat, kann niemand weg reden", sagt Arnemann. Auch nicht gegenüber dem Polizisten, der eine Geiselnahme durch einen sogenannten finalen Rettungsschuss "erfolgreich" aufgelöst hat. Er wurde zwar von den Medien und der Öffentlichkeit als Held gefeiert. "Als er am nächsten Tag aufwachte, war ihm hundeelend zumute. Er machte sich persönlich verantwortlich dafür, dass dieser Mensch nicht mehr lebte", erzählt der Seelsorger, der dem Beamten in seiner seelischen Not half.
Kein Job wie jeder andere
Kann man als gläubiger Christ überhaupt zur Polizei gehen? Für die Beamten von der Christlichen Polizeivereinigung (CPV) steht ihr Beruf in keinem Widerspruch zu ihrem Glauben. Im Gegenteil, für sie steht der Polizist im Dienste von Frieden und Gerechtigkeit. Die Gruppe trifft sich einmal im Monat in einer Berliner Baptistengemeinde, um gemeinsam zu essen, zu diskutieren und füreinander zu beten. Die Spannungsfelder ihres Berufes kennen sie gut, aber sie sind überzeugt, dass es zutiefst biblisch ist, Ungerechtigkeit zu bekämpfen - wenn nötig mit Gewalt.
Der Polizeiberuf ist kein Job wie jeder andere. "Man muss sich immer bewusst sein, dass man in einem Grenzbereich arbeitet", erläutert Rudi Riefle. Er hat jahrelang als Personenschützer gearbeitet und ist mittlerweile in Rente. "Man kann auch als Polizist sein Christsein leben, aber man muss sicher gegen den Strom schwimmen", so der 70-Jährige.
Den Mitgliedern des CPV hilft das christliche Menschenbild, ihr "Gegenüber" immer auch als "Kind Gottes" zu sehen. "Ich bete vor dem Einsatz für Kollegen und für die Beschuldigten", sagt Birgit B., die im Landeskriminalamt Berlin tätig ist. Trotz aller Herausforderungen ist die 51-Jährige gerne bei der Polizei. Sie ist sich sicher, dass sie damit der Gesellschaft dient.
Von Barbara Mayrhofer (KNA)