Religiös und mit Vorurteilen?
"Traditionellerweise findet man in vielen religionspsychologischen Studien, dass religiöse Menschen mehr Vorurteile haben", sagt die Berner Religionswissenschaftlerin Anna-Konstanze Schröder. Das liege daran, dass Religiosität oftmals nur anhand der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches bewertet werde. Das erfasse aber lediglich "Menschen, die eher traditionalistisch orientiert sind". Wenn der Begriff "religiös" jedoch die persönlichen Erfahrungen und Rituale sowie das Nachdenken über die eigene Religion berücksichtige, hätten religiöse Menschen oft viel weniger Vorurteile. Weshalb dem so ist und wo die Begegnungen stattfinden, möchte das Berner Projekt "Xenosophie und Xenophobie zwischen und in den abrahamitischen Religionen" herausfinden, zu dessen Forschungsteam Schröder gehört.
Eine der zentralen Fragen des Online-Fragebogens lautet daher: Unter welchen Bedingungen verläuft eine Begegnung zwischen Christen, Juden, Muslimen und Menschen ohne religiöse Bindung konstruktiv? Dies nämlich bedeutet der Begriff Xenosophie: "Die Begegnung mit dem Fremden - griechisch xenos - kann mich und mein Gegenüber verändern. Wenn diese Begegnung auf Augenhöhe stattfindet, kann daraus etwas Neues entstehen. Das kann man Weisheit nennen, was auf Griechisch sophia heißt", erklärt Schröder.
Sätze wie "Atheisten sind warmherzig" oder "Christen wissen gar nicht über ihren Glauben bescheid" sollen als Impuls dienen. "Wir können untersuchen, was für Eigenschaften eine Person sonst noch hat, die diesem Stereotyp folgt", so die Wissenschaftlerin. In einem anderen Teil des Fragebogens wird nach der persönlichen Einstellung zum Beispiel gegenüber Recht und Ordnung gefragt. Denkbar sei, dass Menschen, denen Recht und Ordnung wichtig sind, Stereotypen eher zustimmen. "Sie halten Muslime vielleicht eher für chaotisch aber warmherzig, während sie Juden eher für kompetent aber unterkühlt halten", illustriert Schröder.
Persönliche Erfahrungen wichtig
Erstmals und ausführlich wird in dieser Studie auch die Wechselwirkung solcher Einstellungen zur eigenen Religiosität untersucht. Gefragt wird etwa, wie oft sich jemand kritisch mit der eigenen religiösen Lehre und den Grundüberzeugungen auseinandersetzt, wie oft er Situationen erlebt, in denen er sich mit dem Universum eins fühlt oder welche Emotionen in Bezug auf Gott erlebt werden.
Auch die eigene religiöse Erziehung wird thematisiert. Es wird etwa danach gefragt, wie oft man als Kind an religiösen Ritualen wie Gottesdiensten teilgenommen hat und wie häufig die eigenen Eltern dies taten. Denn auch die religiöse Erziehung kann im Umgang mit anderen von Bedeutung sein: "Muss sich jemand, der sich erst als Erwachsener eine religiöse Identität zugelegt hat, mehr von anderen abgrenzen als jemand, der schon religiös erzogen wurde?" Auf solche Fragen, die im Zusammenhang etwa mit konvertierten Dschihad-Reisenden Aktualität haben, kann die Studie laut Schröder mögliche Antworten liefern.
Linktipp: "Glaubwürdiges Christentum statt Angst vor dem Islam"
Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn äußert sich zu den Reaktionen auf seine viel zitierte Predigt vom vergangenen Wochenende - und weist medial verbreitete Interpretationen zurück. (Artikel vom September 2016)Nach Einschätzung der Berner Religions- und Islamwissenschaftlerin Silvia Martens lassen sich interessante Vergleiche ziehen, "wenn wir differenzieren, dass sich Religiosität aus Gefühlen, religiöser Praxis und Glaubensinhalten zusammensetzt". Mit ausgewählten Personen werden zusätzlich zur Online-Befragung Interviews geführt. "Hier werden wir auf den Umgang von Nicht-Muslimen mit Muslimen und dem Islam fokussieren", sagt Martens, die diesen Teil der Studie verantwortet. Wenn jemand beispielsweise sagt, der Islam müsse reformiert werden, "dann interessiert uns, ob die Person direkten Kontakt zu Muslimen hat und was in diesen Begegnungen passiert", so Martens.
Studie sucht noch Teilnehmer
Die Resultate sind einerseits für ein akademisches Publikum gedacht, vor allem aber seien sie gesellschaftlich relevant, sagt Martens. Man wolle daher auch religiösen Gemeinschaften ein Feedback zur Studie geben. Aus ihr könnten auch Workshops resultieren für Menschen, die in Kirchengemeinden, in der Migrationsarbeit oder im interreligiösen Dialog aktiv sind. "Solchen Gruppen könnte man konkrete Hinweise vermitteln, wie: Wo bedarf es besonderer Diskussion über diese Vorurteile? Wo muss man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Vorurteile, die ja meist unbewusst sind, überhaupt bestehen?", erläutert Martens. Interessierte können noch bis Ende 2017 an der Studie teilnehmen.