Abschied von der Volkskirche
Eigentlich wollte Thomas Frings nur seiner Gemeinde mitteilen, warum er als Pfarrer aufhören wird. Doch seine "?Kurskorrektur!" überschriebene Bilanz nach gut 30 Jahren im priesterlichen Dienst löste eine viel größere Debatte aus, als er sich das ausgemalt hatte. Priester wollte Frings bleiben – nur nicht mehr Pfarrer sein in Gemeinden, deren größter Wunsch es ist, dass alles wieder so wird wie vor 30 Jahren.
Nun, ein Jahr nach seiner Kurskorrektur, meldet sich Frings mit einem Buch zu Wort. "Aus, Amen, Ende?" heißt der im Herder-Verlag erschienene Band, in dem er seine damalige Analyse weiter ausführt und erklärt. Priester zu sein ist immer noch seine Berufung, als Priester liegt Frings viel an der Kirche. Das macht seine Kritik glaubwürdig: "Hättest du geheiratet, wäre es für alle leichter", zitiert er einen Mitbruder im Buch: "Der Zölibat und der Bischof wären Schuld und wir könnten weitermachen wie bisher."
"Ich wollte Priester werden, um Pfarrer zu werden. Ich habe das Pfarrersein aufgegeben, um Priester bleiben zu können", heißt es am Ende des Buches. Nicht weitermachen wie bisher – das ist das Ziel von Frings schonungsloser Darstellung einer Kirche, die sich noch wie eine Volkskirche gibt, das aber schon lange nicht mehr ist. Der Priester, der das vergangene Jahr in einem niederländischen Kloster verbracht hat, beschreibt Szenen aus seiner Erfahrung als Gemeindepfarrer: Hochzeitsgottesdienste, bei denen niemand, inklusive dem Brautpaar, mit den Riten vertraut ist. Erstkommunions- und Firmkatechese, die wirkungslos verhallt, und die für die Teilnehmer zur letzten Begegnung mit der Kirche wird.
Eine Mischung aus Indifferenz im Alltag und übersteigerter Anspruchshaltung bei Festtagen. Katholische Kindergärten und soziale Einrichtungen, die bestenfalls der Form halber katholisch sind, denn genügend in der Kirche verwurzeltes Personal findet man ohnehin nicht. Gemeinden, die auf dem Papier tausende und zehntausende Mitglieder haben, von denen bestenfalls hundert, zweihundert im Sonntagsgottesdienst zu sehen sind. Man muss nicht selbst Pfarrer sein, um diese Zustände wiederzuerkennen – immer wieder nickt man bei der Lektüre, manchmal zustimmend, manchmal ertappt.
Radikaler Realismus
Die Ansammlung von treffenden Alltagsbeobachtungen aus dem Leben eines Pfarrers könnte bei einer frustrierten Zustandsbeschreibung stehenbleiben. Das ist aber nicht das Anliegen von Frings. Er will weiterhin als Priester an der Zukunft der Kirche mitarbeiten – und zwar nicht in Form einer schalen Hoffnung, der Herr wird's schon richten, sondern als radikaler Realist: "Der Optimist mag die größere Hoffnung haben. Der Realist dagegen den größeren Glauben", ist eine der zahlreichen pointierten Formulierungen, die Frings in seinem Buch findet, ohne in pastorale Klischees zu verfallen.
„Vielleicht ist es angebracht, noch mehr und häufiger Aktionen einfach runterzuschrauben oder ganz aufzugeben und sich stattdessen wieder mehr um das Evangelium zu versammeln.“
Sein Realismus macht sich auch daran fest, um was es in dem Buch nicht geht: Um all das, was gemeinhin unter dem Label "Kirchenreform" verhandelt wird. Aufhebung der Pflicht zum Zölibat für Priester, die Weihe von verheirateten Männern oder Frauen zu Priestern, Sexualmoral und Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene. Gerade die Fokussierung auf Zugangswege zum Priestertum ist für ihn ein Irrweg. Den Zölibat "aus praktischen Erwägungen zur Disposition zu stellen" empfindet er als "Ohrfeige": "Man stelle sich umgekehrt einmal vor, wir würden aufgrund des Mangels an Männern oder Frauen die Monogamie aus rein praktischen Erwägungen aufheben wollen. Wie fühlt sich das für die Paare an, die ihre Lebensform in Liebe und Überzeugung gewählt, gelebt und erfüllt haben."
Nicht, dass eine Diskussion über die zum Reform-Klischee erkalteten "heißen Eisen" nicht lohnen würde – zukunftsweisend kann sie aber nur sein, wenn sie nicht mit dem Ziel geführt wird, bestehende Strukturen einfach nur zu erhalten und noch ein paar Jahre weiter in die Zukunft zu retten.
Christentum mit Anspruch
Frings will stattdessen an den Kern des Problems der ehemaligen Volkskirche: Schlimmer als der unbestritten herrschende Priestermangel ist für ihn, welchen Stellenwert die verbliebenen Christen ihrem Glauben einräumen. Schlimmer ist eine Versorgungsmentalität in den Gemeinden, wo der Zeitpunkt des Gottesdienstes sorgfältig so ausgewählt werden muss, dass er zwischen Sportschau, Gartenarbeit und Sonntagsfrühstück nicht stört, und wo der Gedanke, der eigene Sohn könnte zum Priester berufen sein, Entsetzen hervorruft.
Linktipp: "So kann es nicht weitergehen"
Anfang 2016 kündigte Thomas Frings an, für unbestimmte Zeit seine Aufgabe als Priester ruhen zu lassen. Zu unzufrieden ist er mit seiner Kirche. Danach konnte sich der 55-Jährige vor E-Mails kaum retten. Er hat einen Nerv getroffen. (Artikel von 2016)Publikumsbeschimpfung ist das nicht. Die Befürchtung eines Pfarrers von Ars, in einer Pfarrei ohne Priester würden nach 20 Jahren die Tiere angebetet, ist Frings fern. Im Gegenteil: Er stellt Ansprüche an die praktizierenden Christen, traut ihnen mehr zu als nur Herde zu sein, ohne die Interessierten, die Fernstehenden, die, die nur zu Lebenswenden zu Gast sind, zu vergessen.
Von der Territorial- zur Entscheidungsgemeinde
"Ideen für eine Zukunft der Kirche" verspricht dick und rot das Cover des Buchs. Wer eine Checkliste erwartet, wird enttäuscht, ein Patentrezept muss auch Frings schuldig bleiben. Stattdessen entwirft er sein Ideal einer Entscheidungsgemeinde, die er für geeignet hält, die alte Gemeindeform der Volkskirche abzulösen: "Die Territorialgemeinde ist geformt nach dem Prinzip einer christlichen Gesellschaft. Eine Entscheidungsgemeinde wäre geformt nach dem Prinzip der Sehnsucht."
Mit möglichst viel Eigeninitiative, möglichst wenigen Hauptamtlichen sollen sich überzeugte, entschiedene Christen selbst organisieren, ohne in die Falle einer sektiererischen Abschottung zu gehen. "Nach außen Zuspruch, bis es weh tut, nach innen wachsender Anspruch", ist sein Motto für derartige Entscheidungsgemeinden: Selbstverständlich soll die Kirche mit ihrem Segen großzügig sein. Segen für Beziehungen, Segen für Kinder, auch wenn die Eltern selbst mit der Kirche sonst nichts zu tun haben. Aber das müsse nicht immer in der Hochform des Sakraments stattfinden.
Einladung zur Nachfolge
Theologisch unterscheidet Frings die Bedingungslosigkeit der Liebe Gottes von der Einladung zur radikalen Nachfolge Christi. Beides nimmt sein Konzept ernster als es bisher etwa in der Sakramentenkatechese getan wird, wo die Firmung theologisch die geistliche Mündigkeit ausdrücken soll, praktisch aber in allzu vielen Fällen zum Sakrament des letzten Kirchenbesuchs wird, wo Eheleute allerhand versichern und versprechen, bis hin zur aktiven Verantwortung in der Kirche, aber dann kurz nach dem schönen Fest austreten.
Schonungslos läutet Frings damit einen Abschied von liebgewonnenen volkskirchlichen Traditionen ein: Erstkommunion und Firmung im Klassenverband geht dann nicht mehr. Wer eine christliche Ehe eingehen will oder sein Kind taufen lassen will, bekommt nicht nur den schönen Ritus, sondern auch die Bürde der Entscheidung, ob man diese Verantwortung auch wirklich will.
Einiges bleibt auch offen. Völlig neu ist die Idee von Entscheidungsgemeinden nicht: Personalgemeinden und geistliche Bewegungen organisieren sich entlang einer Sehnsucht, weniger entlang eines Gebiets, und sind dadurch bereits jetzt für viele Menschen gemeindliche Heimat. Die Herausforderung für eine Gemeindeform nach der Territorialgemeinde ist die Offenheit: Eine Orientierung an einer Sehnsucht, an einer Spiritualitätsform birgt die Gefahr, sich selbst zu genügen und sich in Abgrenzung zu den anderen zu definieren. Die Konflikte um die Entscheidungsgemeinden des "Neokatechumenalen Wegs" sind warnendes Beispiel. Das Spannungsfeld vom Zuspruch nach außen und Verbindlichkeit nach innen dürfte die größte Herausforderung für Entscheidungsgemeinden sein; denn selbst die eigentlich unterschiedslos offenen, bestehenden territorialen Gemeinden leiden unter enormen Milieuverengungen.
Kritik an Hauptamtlichkeit zunächst schlüssig
Die scharfe Kritik an der Hauptamtlichkeit ist zunächst schlüssig: Professionalisierung ist immer zweischneidig. Was als Entlastung gedacht ist, kann Eigeninitiative lähmen und ersetzen, das beklagte Anspruchsdenken und Passivität befördern, künstlich erhalten, wofür es keinen Bedarf gibt. Das heißt aber nicht, dass die Kirche in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auf die Professionalität hauptberuflicher Kräfte in den Gemeinden verzichten kann. Wenn sich Entscheidungsgemeinden um eine Sehnsucht gruppieren, dann kann es gerade plausibel zu sein, in Professionalisierung zu investieren: sei es zur Entlastung, sei es zur Akzentuierung – nur eben nicht aus Gewohnheit und um tote Strukturen doch noch zu erhalten.
Frings legt seinen Schwerpunkt darauf, was es heißt, Priester nach der Volkskirche zu sein, und was es heißt, Mitglied einer Gemeinde zu sein. Wünschenswert wäre eine ähnliche Standortbestimmung und Kurskorrektur auch für professionelle Laien in der Pastoral: eine praktische Theologie der Hauptberuflichkeit, die ihren Schwerpunkt auf Subsidiarität und Community Organizing legt. Viele engagierte Gemeinde- und Pastoralreferenten arbeiten bereits jetzt mit diesem Selbstverständnis; auch wenn Frings mit Respekt und Wertschätzung von ihnen schreibt: Wie nach der "Kurskorrektur" im vergangenen Jahr dürften sich auch hier einige ungerecht zurückgesetzt fühlen.
„Wer Heilung brauchte, Hunger hatte, Hilfe benötigte, der bekam [Jesu] Zuspruch, ohne Wenn und Aber. Der Bedingungslosigkeit seiner Liebe folgte manchmal die Einladung der Nachfolge.“
Angenehm an den Überlegungen von Frings ist, dass er sich in keine Lager pressen lässt. Er betont die Bedingungslosigkeit der Liebe Gottes, ohne in die Beliebigkeit abzudriften, ohne billige Gnade zu verteilen. Er betont gleichzeitig die Entschiedenheit der Nachfolge, ohne dass geistliches Leben Weltfremdheit und Abschottung nach außen bedeutet: "Wer nicht will, der muss auch nicht. Wer will, der soll auch wirklich wollen." Seine Lösungsansätze sind weder "progressiv" (weg mit dem Zölibat, her mit dem Frauenpriestertum, Reform der Sexualmoral) noch "konservativ" (mehr Latein, strengere Kirchenzucht, weniger Zeitgeist) – sie sind radikal an der Idee der Nachfolge orientiert.
Nicht mehr hinter Dingen verstecken
Das ist eine Herausforderung für Christen: Dann kann man sich nicht mehr hinter Dingen verstecken, die man eh nicht ändern kann. Die Abschaffung des Zölibats zu fordern ist bequem, weil niemand in absehbarer Zeit in die Verlegenheit kommt, in den Genuss der gewünschten Lösung zu kommen. "Viri probati" sind ein Gedankenexperiment – als Laie selbst Verantwortung zu übernehmen, ist eine Möglichkeit, die heute schon ergriffen werden kann.
Vor einem Jahr hat Thomas Frings mit seiner "Kurskorrektur" ein kleines Beben ausgelöst: In seinem Frust fanden sich viele Aktive wieder, die die Reste der Volkskirche nicht nur verwalten, sondern am Leben erhalten. Mit "Aus, Amen, Ende?" macht Frings seinen Frust produktiv: Schonungslos, aber nicht zynisch. Pragmatisch, ohne sich mit Mangelverwaltung zufrieden zu geben. Realistisch, ohne die Hoffnung aufzugeben. Ein Jahr lang nahm Thomas Frings sich eine Auszeit in einem niederländischen Kloster – wie es für ihn weitergeht, steht noch nicht fest. Vielleicht hat sein Bischof den Mut, ihm den Auftrag und die Freiheit zu geben, eine Entscheidungsgemeinde zu gründen. Zu wünschen wäre es – ihm wie der Kirche.