Warum Stellvertreter Christi?
Kein anderer Kardinal der katholischen Kirche hat zuletzt soviel Rätselraten ausgelöst wie er: Gerhard Ludwig Müller, der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation. Zunächst war es sein Schweigen in der Debatte über das päpstliche Schreiben "Amoris laetitia", das Beobachter erstaunte. Seit Monaten rangen Kardinäle und Bischöfe um den künftigen Umgang mit Katholiken, die nach einer Scheidung erneut geheiratet haben. Doch Müller, oberster Glaubenshüter nach dem Papst, blieb zunächst stumm. Als er sich dann zu Wort meldete, hinterließ er bei Beobachtern ebenso viele Fragen wie Antworten. Spekulationen über angebliche Differenzen zwischen dem konservativen Deutschen und dem Reformer Franziskus erhielten neuen Auftrieb.
Der Einfluss der Päpste auf Müllers Leben
Eine bessere Werbung hätte es für Müllers neues Buch mit dem Titel "Der Papst - Sendung und Auftrag" kaum geben können. Das im Freiburger Verlag Herder erschienene Werk bietet eine ungewöhnliche Mixtur: Die rund 600 Seiten sind Autobiografie, theologisches Traktat und kirchenpolitische Programmschrift zugleich. Die Ouvertüre bildet das Kapitel "Die Päpste meiner Lebensgeschichte". Müller erzählt darin, welche Bedeutung die Päpste von Pius XII. (1939-1958) bis Franziskus für seinen persönlichen Werdegang hatten.
Anschließend erklärt er, auf welchen theologischen Grundlagen das Papstamt ruht. Zudem schildert er die historische Entwicklung des päpstlichen Primats (Vorrangstellung) von seinen Anfängen über das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) bis hin zum Schreiben "Evangelii gaudium" von Franziskus.
Was schreibt Müller nun über Franziskus? Auffällig ist, dass er jenem Papst, dem er seit nun fast vier Jahren als Präfekt der Glaubenskongregation dient, im autobiografischen Teil seines Buches nur knapp sechs Seiten widmet. Benedikt XVI. (2005-2013), der ihn 2012 nach Rom holte und dem er nur einige Monate zu Diensten war, bekommt rund zwölf Seiten. Und der größte Teil des Franziskus-Kapitels ist gar nicht unmittelbar dem jetzigen Papst selbst gewidmet. Auf mehr als vier Seiten davon druckt Müller seine eigene Ansprache bei der Bischofssynode über Ehe und Familie im Oktober 2015.
Rede zu wiederverheirateten Geschiedenen abgedruckt
Der Präfekt der Glaubenskongregation bekräftigt darin die Unauflöslichkeit der Ehe. Mit Blick auf den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen heißt es in der Rede, die Kirche würde die Menschen in einer falschen Heilsgewissheit wiegen, wenn sie die Sakramente der Buße und der Eucharistie anböte, "nur um das Gefühl des Dazugehörens nicht zu stören, ohne auf die Überwindung des objektiven Hindernisses des Sakramentenempfangs aufmerksam zu machen". Warum Müller die Rede an dieser Stelle veröffentlicht, erklärt er nicht.
Im systematischen Teil des Buches widmet sich Müller allerdings ausführlicher jenem Schreiben, in dem Franziskus sein Programm dargelegt hat: "Evangelii gaudium". Hier greift er auch Franziskus' Forderung einer "heilsamen Dezentralisierung" der katholischen Kirche auf. Auf Interesse stoßen dürfte vor allem jene Passage, in der Müller fordert, auch Bischöfe, Synoden und Bischofskonferenzen müssten eine "größere Verantwortung wahrnehmen inklusive einer gewissen lehramtlichen Kompetenz".
Im Jahr des Reformationsgedenkens hört man viel von den Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Protestanten und wenig von den noch bestehenden Unterschieden. Wer genau wissen will, was einen Katholiken eigentlich theologisch heute noch von einem Protestanten unterscheidet, kann dies bei Müller nachlesen: klar, präzise, ohne Polemik und allgemeinverständlich. Das Kapitel "Der protestantische Grundentscheid gegen den römischen Papst" zählt zu den interessantesten des Buches.
Theologieprofessor statt Erzähler
Bereits nach den ersten Seiten wird klar, dass der Theologieprofessor Müller brillanter ist als der Erzähler Müller. Kindheit und Jugend liefern nur die Stichworte für theologische Exkurse. So schreibt er etwa, dass ihn unter anderen die Ordensschwestern im Kindergarten "immun gegen eine theophanistische oder pantheistische Auflösung des Verständnisses Gottes" gemacht hätten. Aber Müller kann auch anders. Über die Sakramente etwa heißt es, sie seien "nichts anderes als die sozialen Medien der Kommunikation mit Gott im 'Facebook' Jesu und seinen weltweiten 'Followers', den Fischen im Netz Petri".
Die Lektüre von Müllers Buch ist lehrreich und anregend, auch wenn es bisweilen schwere Kost bietet. Enttäuscht wird aber, wer sich Näheres über das Verhältnis zwischen Müller und Franziskus erhofft hatte.