Bischof Wiesemann über die Glaubensverkündigung heute

"Gott ist größer"

Veröffentlicht am 03.04.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
"Gott ist größer"
Bild: © KNA
Theologie

Bonn ‐ Bischof Karl-Heinz Wiesemann spricht im Interview über seinen Glauben an Gott, die diversen Gottesbilder und die Glaubenskrise der heutigen Zeit. Und er verrät, was das mit seinem Wahlspruch zu tun hat.

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Frage: Herr Bischof, Ihr Wahlspruch "Maior omni laude" ist doch eigentlich eine Glaubensaussage...

Wiesemann: Ja. Der Wahlspruch bedeutet: Gott ist "größer als alles Lob". Er stammt aus dem eucharistischen Hymnus "Lauda Sion", den der heilige Thomas von Aquin verfasst hat. Von Kindheit an sind mir die Musik und das gesungene Gotteslob ein wichtiger Weg zur Gotteserfahrung geworden. Ich habe Gott als den "immer Größeren" erfahren, wie der heilige Ignatius von Loyola sagt, durch dessen Spiritualität ich geprägt wurde: "Deus semper maior".

Daher ist eines meiner größten Anliegen: Wie kann es gelingen, dass dieses Lob Gottes und die darin zum Ausdruck kommende Freude an Gott in den Menschen von heute, in unseren Gläubigen und Gemeinden nicht verstummt, sondern sich neu entfaltet? Wie kann der Gott ins Spiel kommen, der uns und unsere Vorstellungen immer wieder überschreitet und der uns gerade heute gegen alle Depressivität und allen Fatalismus in die lebendige Freiheit führt? Denn Gott will uns Menschen durch seine Größe ja nicht klein machen, sondern groß.

Frage: Was bedeutet das konkret, wenn Gott uns groß machen will?

Wiesemann: Ich glaube daran, dass Gott mich immer wieder neu überraschen möchte. Mehr noch, Gott muntert mich dazu auf, meine Talente und Charismen zu nutzen. Das drückt auch Thomas von Aquin aus, wenn er schreibt: Weil Gott größer als alles ist, musst du alles wagen, was du kannst. Ich verstehe das so: Wirf deine Talente in die Waagschale deines Lebens hinein, Gott wird alles neu ordnen und zusammensetzen. Gott kann dich ein Leben lang immer wieder neu motivieren und zum Leben anstiften. In Gott und mit Gott zu leben ist eine Berufung fürs ganze Leben, ist meine Lebensberufung. Thomas von Aquin spitzt das in seinem "Lauda Sion" zu: "Du wirst mit dem Lob Gottes nie an ein Ende kommen". Gott ist eine unerschöpfliche Quelle, dass wir ihn kaum fassen können. Oder wie die heilige Teresa von Avila sagt: "Gott ist so groß, dass er es wert ist, ihm ein Leben lang zu dienen."

Frage: Nehmen Sie in der heutigen Gesellschaft eine Glaubenskrise wahr?

Wiesemann: Ich sehe es nicht so, dass die Menschen heute nicht an Gott glauben oder glauben wollen, sondern dass viele keinen Zugang zu ihm finden. Die meisten haben ein stark naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild. Es gibt Vorstellungen von Gott, wie die von der Allmacht Gottes, die für viele damit einfach nicht in Einklang zu bringen sind. Die Menschen fragen angesichts tragischer Leiderfahrungen, angesichts von Katastrophen und Terroranschlägen: "Wo bist du Gott in all dem Unglück? Wo ist deine Allmacht zu spüren?" Sie lehnen einen Gott ab, den sie mit ihrer erklärbaren Welt nicht zusammenbringen und auch nicht zusammenbringen wollen.

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Video: © katholisch.de

Bischof Karl-Heinz Wiesemann ist der neue Vorsitzende der Glaubenskommission innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz. In einer ersten Stellungsnahme erklärt er, worauf es nun ankommt.

Aber das bedeutet nicht, dass das alles überzeugte Atheisten wären. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Menschen heute eher agnostisch sind als atheistisch. Nicht wenige von denen, die sagen, ich glaube nicht an Gott oder ich brauche keinen Gott, sind in ihrem Inneren spirituell auf der Suche. Es ist eine große Herausforderung für uns, den lebendigen Gott, wie er sich uns in der Heiligen Schrift offenbart, wieder so mit dem Leben der Menschen zu verbinden, dass sie ihn in ihrem Leben entdecken können. Aber gerade diese Spannung hat - dem Zeugnis unseres Glaubens nach - Gott selbst auf sich genommen, als er Mensch wurde. Er zeigt sich, wie Martin Luther sagt, "sub contrario", unter seinem Gegenteil: der Allmächtige wird ein schwaches Kind, der Heilige wird wie ein Verbrecher gekreuzigt. Wir verkünden einen Gott, der sich in atemberaubender, ja gewissermaßen in skandalöser Weise auf den Menschen eingelassen hat. In dieser Liebe zu seiner Schöpfung, in dieser alles in die Waagschale werfenden Schwäche für den Menschen besteht seine Größe. Dieses Abenteuer müssen wir wieder stärker aufnehmen, damit Menschen von diesem "unglaublichen" Gott berührt und verändert werden.

Frage: Wie soll Gott dann heute verkündet werden?

Wiesemann: In früheren Zeiten war Gott durch seine Größe und Vollkommenheit den Menschen unmittelbar zugänglich. Die Perfektion hat heute - zugespitzt gesagt - die Technik, die Allmacht Wirtschaft und Militär, die Allwissenheit das Internet übernommen. Gott zeigt sich heute eher in der Erfahrung, wie verletzlich trotzdem - oder gerade dadurch - das menschliche Leben ist. Er zeigt sich in den Faserrissen, den Bruchstellen, den Wundmalen unserer Zeit und unserer Lebenswelt. Der privat verborgene Gott wird öffentlich bei großen tragischen Anlässen, in denen alle anderen Bezüge versagen, verstummen. Aber das gilt auch im Kleinen der individuellen Lebenswelten: die Gottesfrage stellt sich, wenn alle irdischen Heilsversprechen versagen. Sie stellt sich in der beglückenden Unerklärbarkeit des "Wunders" des Lebens gerade in seiner schon von Anfang an gegebenen Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit. Sie stellt sich in den verwundeten Augenblicken, in denen unsere Pläne durchkreuzt und unsere Sicherheiten abgründig verletzt werden.

Und wir spüren: Gerade dadurch, dass die nicht perfekten, die verletzbaren oder schon zutiefst verwundeten Seiten in den Blick geraten, wird die Welt menschlicher. Dadurch, dass wir Flüchtlinge aufnehmen, dass auch das unproduktive Leben bedingungslose Würde erhält oder dass Menschen mit Behinderungen einen Platz in unserer Mitte haben. Hier leuchtet etwas auf von Größe, Schönheit, Würde und Freiheit jenseits von perfektionierbarer Effizienz. So kommt der Grund und Sinn des Lebens ins Spiel: der Gott mit menschlichem Angesicht. Und wir erleben gerade heute, dass wir mit technischen oder militärischen Mitteln die Probleme unserer Welt nicht in den Griff bekommen. Und schon gar nicht durch angstbesessene Abwehr und durch Aufrichten von Mauern.

Frage: Welche Aufgabe sehen Sie für die Glaubensverkündigung gerade an den Agnostiker von heute?

Wiesemann: Eine Aufgabe der Verkündigung ist sicher, neu darüber nachzudenken, wie wir von Gott sprechen. Die Sprache ist unser wichtigstes Mittel. Als Bischof gehört die Verkündigung des Evangeliums zu meinen zentralen Aufgaben. Das fordert mich immer neu dazu heraus, die richtige Sprache zu finden, in der die Menschen ihr Leben im Licht der Offenbarung deuten können. Dazu aber reicht es nicht, die alten Inhalte zum Beispiel in eine aufgepeppte Jugendsprache zu übertragen. Die Rede von Gott ist vielmehr eine tiefe Anfrage an den eigenen Glauben, an unser persönliches Gottesbild. Es handelt sich um eine Tiefenbohrung par excellence. Solch ein Glaube muss den großen Anfragen an unsere aufgeklärte Menschheit standhalten, und ich bin davon überzeugt, er hält stand.

„Es geht immer um den lebendigen Gott, und das ist viel mehr, als wir uns vorstellen können.“

—  Zitat: Bischof Karl-Heinz Wiesemann

Frage: Bringen Sie das als Vorsitzender der Glaubenskommission auch in der Bischofskonferenz zur Sprache?

Wiesemann: Ja, genau das haben wir uns in der ersten Sitzung der Glaubenskommission deutlich vor Augen geführt - unter dem großen Stichwort Evangelisierung. Evangelisierung ist auch ein wichtiges Leitmotiv für die gesamte Arbeit der Deutschen Bischofskonferenz. Wir wollen hier tiefer gehen und die Gottesfrage, die spannungsreich im biblischen Gottesbild verankert ist, wieder stärker herausarbeiten. Dazu reichen dogmatische Lehrformeln alleine nicht. Es geht immer um den lebendigen Gott, und das ist viel mehr, als wir uns vorstellen können.

Frage: Das Bild des barmherzigen Vater aus der Bibel würde zum Beispiel doch Gott treffend beschreiben?

Wiesemann: Man kann Gott nicht mit einem Bild festlegen. Es gibt natürlich Grundbilder, die uns tief in das Innere Gottes blicken lassen und uns helfen, Gott näher zu kommen. Sie bewegen und berühren uns in besonderer Weise. Dazu gehört sicherlich das Bild vom barmherzigen Vater. Aber auch dieses Bild müssen wir sehen auf dem ganzen spannungsreichen Hintergrund der biblischen Offenbarung, die auch vom Zorn Gottes spricht. Das Entscheidende ist, dass man diese große Spannung nicht auflöst. Es geht schließlich um den allmächtigen Gott, den Richter der Welt, und es geht gleichzeitig um den ohnmächtigen Gott am Kreuz. Gott ist nicht auf eine einfache Formel zu bringen: Er ist der Ursprung und das Geheiminis des Lebens. Das zeigt sich insbesondere im trinitarischen Gottesbild, das den einen Gott als gegenseitige Verwiesenheit und erfüllte Gemeinschaft bezeugt. Es gibt in der Kunst die Darstellung des "Gnadenstuhles", in der dieses Geheimnis bis in die Abgründigkeit des Todes Christi am Kreuz ausgelotet wird.

Frage: Ist Gott wie die Liebe, die ich spüren kann?

Wiesemann: Im Johannesbrief steht, Gott ist die Liebe. So berührend es ist, über die Liebe von Mensch zu Mensch zu sprechen, als allererstes ist Gott die Liebe. Was Liebe im tiefsten ist, zeigt uns Gott. Und da sprengt er auch gleichzeitig unsere menschlichen Vorstellungen und Fähigkeiten. Denken wir nur an die Bergpredigt mit dem Gebot der Feindesliebe. Alle unsere gängigen Begriffe von Liebe sind damit nochmals überschritten worden.

Ein Gemälde mit Jesus, der das Kreuz trägt, einer Taube und Gottvater, der als alter Mann mit Bart dargestellt wird.
Bild: ©Renáta Sedmáková/Fotolia.com

Bischof Wiesemann: "Gott ist nicht auf eine einfache Formel zu bringen: Er ist der Ursprung und das Geheiminis des Lebens. Das zeigt sich insbesondere im trinitarischen Gottesbild, das den einen Gott als gegenseitige Verwiesenheit und erfüllte Gemeinschaft bezeugt."

Frage: Romano Guardini schreibt, Gottes Macht ist vor allem in seiner Demut spürbar.

Wiesemann: Romano Guardini ist ein großer Theologe und Denker des Gegensatzes. In seinen späten "theologischen Briefen an einen Freund", wie er sie genannt hat, spürt man, wie sehr der Gottesglaube für ihn ein Leben lang eine große, gerade in ihrer Abgründigkeit berührende Gratwanderung war. Das hat ihm in aller Gefährdung und Verletzbarkeit gleichzeitig den visionären Blick gegeben. Vieles von dem, was er damals schon erahnt hat, als er vom "Ende der Neuzeit" und von den Herausforderungen der Zeit danach sprach, ist Wirklichkeit geworden. Wohl auch deshalb hat ihn Papst Franziskus so häufig in seiner Enzyklika "Laudato si" zitiert.

Wo Theologie banal wird, wo sie in etwas rein Überweltliches oder rein Innerweltliches abgleitet und die Spannung zwischen diesen beiden Polen nicht aufrechthalten kann, da wird sie schnell schal und leer. Jesus vergleicht das mit dem Bild vom weggeworfenen Salz, das von den Leuten zertrampelt wird. So ist es auch, wenn wir das Geheimnis um den Gott, der uns in dem gekreuzigten Herrn als wahrem Gott und wahrem Menschen aufgeleuchtet ist, in unsere Vorstellungen auflösen wollen. Dogmatik ist nicht die Übung, Gott in festen Sätzen auszusagen, sondern das Geheimnis Gottes vor allen weltlichen Auflösungen zu bewahren. Wie sagte der heilige Augustinus? "Si comprendis, non est Deus" - Wenn du es verstanden hast, ist es nicht Gott. Sein Geheimnis ist nie ganz fassbar.

Frage: Muss man dann eigentlich mehr vom Leben der Menschen sprechen, um von Gott zu erzählen?

Wiesemann: Man sollte von Gott im Leben der Menschen erzählen, vor allem im eigenen Leben. Authentizität ist heute ein Schlüsselbegriff. Für uns meint er nichts anderes als der alte Begriff des "Zeugen". Das aber braucht das Gegenüber, dem ich mein Herzensanliegen, das, was ich mit meinem Leben bezeuge, weitergeben möchte. Und das kann ich nur, wenn ich mich für den anderen öffne. Verkündigung ist nie ein Monolog, nie ein Prozess von oben herab, sondern immer ein Austausch von Mensch zu Mensch.

Wenn wir es schaffen, sprachfähig über unseren Glauben zu bleiben, dann entsteht im besten Fall ein Dialog mit Menschen auf Augenhöhe und im lebendigen Austausch von Erfahrungen. Wenn die alte Botschaft unseres Glaubens, das immer Bleibende, immer neu gehört und ausgedeutet wird, dann bleibt sie auch lebendig. Gott hat sich selbst bewusst in seinem Wort in die Menschengeschichte eingeschrieben, damit wir Menschen einen ganz neuen Zugang zu Gott und zu seinem Geheimnis finden können. Und es ist uns als Christen aufgegeben, den Menschen das zu erschließen, es neu zu deuten und erfahrbar zu machen - in der Liturgie, im Dialog, im wissenschaftlichen Gespräch oder in der seelsorglichen Begleitung. So kommt Gott in seinem Wort zu uns Menschen.

Von Madeleine Spendier