Ein Kirchenrecht für die katholische Welt
Ende des 19. Jahrhunderts war es unübersichtlich im Kirchenrecht: Zehntausende unterschiedliche Normen existierten. In Jahrhunderten kirchlicher Rechtsgeschichte wurden Gesetze erlassen, erweitert, außer Kraft gesetzt, neu formuliert, kommentiert und diskutiert. Ein einheitliches Gesetzbuch gab es nicht. Das "Corpus Iuris Canonici", die Sammlung kanonischen Rechts, war seit dem Mittelalter nach und nach entstanden, beginnend im 12. Jahrhundert, als der Mönch Gratian die Rechtsquellen seiner Zeit im "Decretum Gratiani" zusammengefasst hatte. Das Corpus wuchs über die Jahrhunderte immer weiter an, Päpste und Konzilien hinterließen ihre Spuren, zu den alten Rechtstexten kamen Kommentare und Anmerkungen hinzu, Widersprüche und Unklarheit konnten nicht ausbleiben – kurz: Eine unüberschaubare Menge an Gesetzen, und niemand wusste so ganz, was wirklich gilt.
Gegen den Wildwuchs
Ein Problem, vor dem auch das weltliche Recht stand und auf das Rechtswissenschaft und Gesetzgeber mit systematischen und einheitlichen Gesetzeswerken reagierten, wie etwa mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch des Deutschen Reichs. So wurde auch in der Kirche immer deutlicher: Dieser unübersichtliche Wildwuchs kann so nicht weitergehen. Bereits beim ersten Vatikanischen Konzil (1869–70) äußerten daher einige Bischöfe den Wunsch, endlich eine klare, übersichtliche Sammlung des geltenden kanonischen Rechts zu schaffen.
Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bis es so weit war. Einige Kanonisten nahmen es in der Zwischenzeit sogar selbst in die Hand, eigene Vorschläge für ein vereinheitlichtes Gesetzbuch zu schreiben, ohne dass ihre Vorschläge gehört wurden. Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert, dass das Projekt auch seitens des Papstes angegangen wurde: "Eine wirklich anstrengende Aufgabe", hörte man Pius X. schon im Titel des Motu proprio "Arduum sane munus" 1904 seufzen, mit dem er den Startschuss für ein einheitliches kirchliches Gesetzbuch gab. Eine Kommission aus 16 Kardinälen unter der Leitung seines Kardinalstaatssekretärs Pietro Gasparri sollte das Recht der Kirche sichten und vereinheitlichen. Dem umfassend gebildeten Gasparri – er führte Doktortitel in Philosophie, Theologie und Jura – zur Seite stand ein junger Kirchenrechtler als Assistent, ein gewisser Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII.
Die Weltkirche schreibt mit
Natürlich hatte auch die Weltkirche und die Theologie einiges beizutragen: Bischöfe und Ordensobere wurden regelmäßig per Brief über Fortschritte informiert, Beiträge der katholischen Universitäten und der Ortskirchen bei der Überarbeitung berücksichtigt. Dazu hatte jeder Bischof der lateinischen Kirche sogar das Recht, einen Vertreter dauerhaft nach Rom zu schicken, der in der Kommission gehört werden konnte – quasi einen Kirchenrechtsbotschafter.
Dennoch kam die Kommission – zumal für kirchliche Verhältnisse –schnell voran: Bereits 1912 lag die erste vorläufige Fassung des neuen Gesetzbuchs vor, die zur Grundlage der weiteren Beratungen der Kommission wurde. Weitere vier Jahre danach waren alle 2.414 Canones fertig. Pius X. erlebte das schon nicht mehr; 1914 war er gestorben, die Vollendung der Kirchenrechtsreform fiel seinem Nachfolger, Benedikt XV. zu. Das erste einheitliche Kirchengesetzbuch wird daher auch pio-benediktinischer Kodex genannt.
Zu Pfingsten kommt das neue Recht
1916, ein Jahr vor der Promulgation des neuen Kodex hob Benedikt XV., der Friedenspapst des ersten Weltkriegs, vor den Kardinälen im Konsistorium die zivilisierende Bedeutung des Rechts hervor: "Zeigen nicht die Schrecken dieses wahnsinnigen Krieges, der Europa verwüstet, wieviel Elend und Zerstörung die ernten, die die Gesetze verachten, die die Beziehungen unter den Menschen regeln?" Auch vom bald übersichtlichen und klaren Kirchenrecht erwartete er viel: "Es ruft die Erkenntnis der Gesetze der Kirche wieder wach, und so hilft es außerordentlich dabei, sie zu befolgen und so reiche Frucht für die Seelen zu bringen." Unter dem Namen "Codex Iuris Canonici" verkündete der Papst dann mit Datum 27. Mai 1917, zu Pfingsten, im Motu proprio "Providentissima mater ecclesia" das neue Recht und setzte das Datum seines Inkrafttretens auf Pfingsten des Folgejahres fest, also den 19. Mai 1918. Die Verzögerung sollte der Kirche auf der ganzen Welt ermöglichen, sich auf die Umsetzung der Reform vorzubereiten.
Auch die Kurie sollte auf die neue Übersichtlichkeit eingeschworen werden: In einem weiteren Schreiben wies der Papst seine Behörden an, zurückhaltender mit dem Aufstellen neuer Dekrete zu sein und Rücksprache mit einer neu geschaffenen Kurienbehörde für die Rechtstexte zu halten. Anstelle eines neuerlichen Wildwuchses sollte die systematische Erweiterung und Reform des einen Gesetzbuchs treten – das blieb allerdings weitgehend ein frommer Wunsch.
In den gut 65 Jahren, in denen der Codex von 1917 galt, wurden nur wenige Änderungen daran vorgenommen, und nur eine in Form einer expliziten Änderung des Wortlauts, obwohl das Werk deutlich Kind seiner Zeit war: Laien kamen kaum vor, die Kirche wurde als "societas perfecta" gefasst, als "vollkommene Gesellschaft", die sich selbst genügt, Ökumene spielte keine Rolle: Christen anderer Konfessionen gehören in der Sprache des Codex "nicht-katholischen Sekten" an.
Aggiornamento auch im Kirchenrecht
Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil schaffte das wiederum Unklarheit. Das Kirchenbild der vollkommenen Gesellschaft wurde durch eine Ekklesiologie der Communio, der Gemeinschaft, ersetzt, Laien erhielten einen neuen Stellenwert, von nichtkatholischen Christen wurde mit neuer Wertschätzung gesprochen. Der Konzilspapst Johannes XXIII. wollte sein "aggiornamento", seine "Verheutigung" der Kirche auch im Kirchenrecht abgebildet sehen und kündigte das schon bei der Einberufung der Versammlung ein – das Konzil selbst rückte aber ab von einer juristischen Sprache. Stattdessen drückten die Konzilsväter ihre Fortentwicklung der Lehre der Kirche in pastoraler Sprache aus – mit dem Ergebnis, dass rechtliche Konsequenzen der Beschlüsse des Zweiten Vatikanums nicht explizit formuliert waren, selbst wenn es um eindeutig kirchenrechtlich relevante Sachverhalte ging. Der vorkonziliare Codex musste also im Licht der Konzilstheologie interpretiert werden.
Erst unter Papst Johannes Paul II. endete die Ära des 1917er-Codex endgültig: 1983 setzte er nach fast 20jähriger Arbeit eine neue Fassung des CIC in Kraft, wie der pio-benediktinische Kodex ein Gesetzbuch für die lateinische Kirche – mit einer Lehre von der Kirche auf der Höhe der Zeit, einem neuen Miteinander von universeller Kirche und Ortskirchen, und einem eigenen Buch über das Volk Gottes. 1990 ergänzte ein eigener Kodex das Recht der Kirche für die katholischen Ostkirchen. Zusammen mit der apostolischen Konstitution "Pastor Bonus" (1988), die die Kurie neu ordnete, bilden diese Rechtswerke ein von Johannes Paul II. so bezeichnetes neues "Corpus Iuris Canonici" – und damit den rechtlichen Schlussstein des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Die Väter des ersten Codizes, Papst Pius X., Papst Benedikt XV. und Kardinal Pietro Gasparri, hätten sich wohl sehr gewundert, wie anders nur wenige Jahrzehnte später die Kirche ihr Recht fasst. Die eigentliche Leistung ihrer Pioniertat ist aber geblieben: Ein Gesetzbuch für die Kirche, in dem steht, was gilt.
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 27. Mai 2017.